II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 790

11. Reigen
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Erfrorener Frühling
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es nennt die zum hehren Zwecke großen Gelderwerbes be¬
schlossene Vorführung der wienerischen Koitusgespräche
schlicht „einesittliche That“. Hätte die berliner Akademie einen
Tugendpreis, wie die pariser den Prix Monthyon zu För¬
derung der Moralität, zu vergeben, er müßte Frau Eysoldt,
müßte Herrn Sladek krönen. Müßte? In der Zeitung fand
ich Berichte über einen „Ball der Filmindustrie“, Schwarzer
Tüll, Cape mit Straußfedern, Brokatbandeau mit Paradies¬
reihern im Haar; Goldlamékleid auf jadegrünem Grund;
rosa Taft mit Silberspitzen; rabenblaues Paillettekleid mit
Hermalin und Chinchilla; indischer Damast; Türkiscrepe
mit Silberstickerei; weiße, bestickte Seide; lila Chiffon mit
Goldstickerei; rostfarbiger Goldbrokat mit Straußenverbrä¬
mung; schimmernde Hermelinmäntel. So wurden, eine Spalte
lang, die Ballkleider der Kinomädchen beschrieben. Auch
die anderen Wonnen des Festes geschildert, „bei dem der
Sekt in Strömen floß.“ Beim Lesen dachte ich der Millionen
deutscher Kinder, die heute kein Hemd auf dem Leib ha¬
ben, der Vergarbeiter, die, um ihr einziges waschen zu lassen,
an Sonntagen nicht ausgehen, des Schattengewimmels der
durch den Absturz aus Gold- in Papierwährung ruinirten
Kleinrentner; dachte an das sowjetische Moskau, das so
schimpfliche Völlerei nicht dulden, all diesen Frauenzim¬
mern sammt Galanen die Kleid- und Schmuckpracht ab¬
schälen, sie im Unterzeug auf die Straße setzen würde; und
fragte mich, warum nicht jede Stadtgemeinde von jedem Ball¬
billet mindestens hundert Mark Steuer fordere. Von dieser
Verblendung hat erst der Gerichtsspruch über die Schnitz¬
lerei mich erlöst. Was mir frecher Hohn auf die Massen¬
noth, unverschämte Herausforderung der in Fiendswinkeln
Hungernden, Frierenden schien, sollte offenbar nur „sittlichen
Ekel vor dem Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerung.
schichten erzielen.“ Fraget die Ehrenwerthen, die in Allteutsch¬
land alltäglich zu Bällen einladenz ihre „erklärte Absicht“ wird
dieses Ziel zeigen. Jede Ausstellung halbnackter Brok=weiber,
Hermelinmädchen „bedeutet eine sittliche Thaz“. Ob die
armen, aus anderem Grund hemdlosen Kinder, denen nicht
Reiherkronen den Hut, Goldketten und Perlenschnüre die
Aermel ersetzen, an die Sittlichkeit solcher That glauben?