II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 811

daß auch in der Weihnachtszeit die geseuigen Vergnügungen,
der Cänsebraten, die Kuchen, die Geschenke der Kinder eine
große Nolle spielen und sind zufrieden, wenn durch die heilige
Zeit die Ahnung einer höheren Welt hindurchgeht. Wir wissen,
daß wir nie die Majestät der Ueberwindung erreichen werden,
die sich in den Erdentagen des Heilands spiegelt, und die in
Gethsemane und in dem verzweifelten Aufschrei am Kreuz
elbst seine hohe Seele vorübergehend verlassen wollte. Wir
wissen, daß wir uns glücklich preisen müssen, wenn der Heiland
durch die gesunde Sinnlichkeit unseres Volkstums einen leuch¬
tenden Faden seiner göttlichen Liebe hindurchwebt, und er wird
uns darum nicht verwerfen wollen.
Er verwarf die Sünderin nicht und nicht den verlorenen
Sohn, weil in ihnen das Licht der Menschenliebe war. Er
hatte für den daheimgebliebenen Sohn nur eine gütige Zurecht¬
weisung, obwohl seine Seele kalt war, und er stellte selbst dem
Mörder am Kreuz das Paradies in Aussicht, als das Licht der
sittlichen Erkenntnis in ihm ausging. Er spricht die mildesten
Worte, die je von Menschenlippen geflossen sind, so lange er
nur ein diamantenes Staubkorn seines eigenen Wesens sieht.
Er greift nur zur Peitsche, wenn das Letzte gewagt und der
Tempel selber geschändet wird. Er läßt den Donner seiner
Rede nur grollen, wenn die Seelen innen voll Unflats wurden,
wobei er sich durch äußere Korrektheit nicht blenden läßt, und
selbst dann geht mitunter durch seine Rede eine stille Trauer
über die Verlorenen, wie die Wipfel der Bäume unter leisem
Rauschen weinen, wenn das Gewitter sich in der Ferne verzog.
In den folgenden Zeilen, die den Spielplan der Östertage
betrachten wollen, darf nun nicht übersehen werden, daß das
Theater eine weltliche Kultusstätte der Seele ist und die
weltliche Freude hier also vorhanden sein darf. Wir dürfen
vom Theater zwar verlangen, daß es dem Grad nach höher
liege als das bunte Treiben vor dem Tor, weil es eine Kultus¬
stätte der Seele ist und diesen Adel nie ganz verleugnen darf,
wir dürfen aber nicht verlangen, daß es, als ein Teil des
Volkslebens, aus anderen Elementen gemischt sei als das
Volk selber. Wenn die Fiedel unter der Linde erklingt, darf
sie auch im Theater gestrichen werden, und wenn das junge
Volk jauckzt, hat das Jauchzen auch auf der Bühne ein Recht.
Verliert sich vor dem Tor die sinnliche Freude in niedrige
Gier, hat das Theater ein Recht, diese Erscheinung zurückzu¬
strahlen, sie hat aber kein Necht, ihr gleich zu sein oder sie zu
billigen, wie sie auch im Volksleben von keinem gesunden
Menschen gebilligt wird. In der Gier wohnt keine Freude, son¬
dern nur die Möglichkeit einer zitternden Befriedigung, und so
dürfen wir am Ende in der Freude das Kriterium der gebotenen
Komödien erblicken.
Um nun ganz sicher vor dem Vorwurf geschützt zu sein, daß
ich das Licht im Spielplan nicht finden konnte, well in mir
elber kein weltliches Licht war, unterstelle ich, daß der ganze
Schwarm von erotischen Schwänken, Possen, Operetten, Aus¬
stattungsstücken, der an den Ostertagen wie an jedem andern
Tage auf zahllosen Bühnen vorhanden war, im Dienst der
frohen Sinnlichkeit stand. Ich unterstelle, daß all diese öffent¬
lich vorhandenen Wirkungen, die wie eine Riesenmacht am Volk
arbeiten, harmlos waren, obwohl ich weiß, daß sie es nicht
gemesen sind. Ich unterstelle, daß all diese Komödien über¬
mütige Augen hatten, obwohl sie nur ein wissendes Zwinkern
zeigten. Ich unterstelle, daß sie lachten, obwohl sie nur schmun¬
zelten, und daß sie das Lächeln kannten, obwohl sie nur lockten.
Ich untersuche nicht, ob selbst bei vorausgesetzter Harmlosigkeit
nicht das Ueber maß des erotischen Kultus ein äußerst be¬
denkliches Zeichen sei. Ich werfe die Frage nicht auf, ob der
erotische Ueberschwang, falls er an sich Anerkennung finden
sollte, in einer Zeit angebracht ist, in der Deutschland wie ein
trauriges Massengrab daliegt, über das die kalten Winde des
Auslands dahinstreichen. Wir sind in unseren Ansprüchen ja
o bescheiden geworden, daß wir eine nicht geringe Aussicht
haben, in des Wortes buchstäblicher Bedeutung an unserer Be¬
scheidenheit zu sterben. Ich unterwerfe meiner Kritik im fol¬
genden nur, was auch innerhalb der sinnlichen Kunst häßlich
ist. nur die unverhüllte Gemeinheit also, die Menschenantlitz
trägt, aber die Schamlosigkeit des Tiers annahm, und das, was
schlimmer ist als sie.
Wenn wir den Spielplan der Östertage überblicken, finden
wir nun zunächst, daß Wedekind seine Stellung als bevor¬
zugter Dichter der christlichen Festtage auch im März d. J. be¬
haupten konnte. Am verflossenen Weihnachtsfest spielten ihn
zwei Bühnen, am Gründonnerstag sah man ihn im Staatlichen
Schauspielhaus, am Larfreitag in den Kammerspielen, und in
den Tagen des auferstandenen Heilands wurde seine Welt¬
anschauung in drei Theatern verkündet. Am Nachmittag des
ersten Feiertages erläuterte er im Theater in der Königgrätzer
Straße, wo man den „Erdgeist“ spielte, den Auferstehungssieg der
göttlichen Liebe durch den scharffinnigen Zusatz, daß die
triumphierende Gewalt im Leben der Dirne sei. Am Nachmittag
des zweiten Feiertages zeigte er in den Kammerspielen, wie der
Frühling der Brunst in den Backfischen in einem Alter erwacht,
in dem sie wenigstens vor der Novemberrevolution durch das
Strafgesetzbuch geschützt waren, und am Abend des zweiten
sondern indem er in ihrem Innern eine Bewegung hervorruft,
nicht indem er die Gesetze der Seele stört, sondern indem er sie
erfüllt. Wenn Goethe damit recht haben sollte (und seine Auf¬
fassung ist zum mindesten ernsten Nachdenkens wert), würde
die Sündenvergebung ausbleiben, weil in der Seele ein
Prozeß nicht mehr hervorgerufen werden kann, der zur Ueber¬
windung des sündigen Zustands führt. Das Neue Testament
würde also die Verweigerung der Sündenvergebung nicht in
Aussicht stellen, weil die Güte des von ihm verkündeten Gottes
rgendwo eine Grenze hätte, denn nach den Evangelien hat sie
das nirgends, sondern weil sie in einer bestimmten menschlichen
Seele nicht mehr zu wirken vermag. Ist eine Seele aber in
allem Ernst satanistisch geworden, also nicht aus törichter Eitel¬
keit, weil sie den Zustand für gar so interessant hält, dann ist
sie so restlos der Unsittlichkeit verfallen, daß jedes Gefühl ihres
eigenen Zustandes erloschen ist. Dann kann aber eine innere
Reaktion, die zu einer Ueberwindung des sündhaften Zustands
führen könnte, nicht mehr hervorgerufen werden, da jede
Reaktion aus einem sittlichen Keim hervorgehen müßte, die sitt¬
lichen Keime aber gestorben sind. Man kann selbst die härtesten
Metalle schmelzen, ein Metall aber, das der Einwirkung der
Wärme nicht mehr unterliegt, kann auch durch die Glut im
Innern des Sonnenballs nicht geschmolzen werden, und in einer
Seele, die der Einwirkung der göttlichen Güte nicht mehr unter¬
liegt, kann eine Vergebung der Sünden nicht mehr bewirkt
werden.
Im Satanismus scheinen mir also die psychologischen Vor¬
ausetzungen vorhanden zu sein, die vorhanden sein müssen, um
das Ausbleiben der religiösen Sündenvergebung verständlich
erscheinen zu lassen. Gott könnte die Seele nur noch ändern,
indem er durch einen äußeren Eingriff ihre gesetzmäßige Ent¬
wicklung aufhöbe, und am Ende gilt das Wort des Nazareners:
„Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen, nicht
nur vom alttestamentlichen Gesetz, sonde n hat den tieferen und
allgemeineren Unterton der Goetheschen Anschauung. Wie dem
nun aber auch sei: unter allen Umständen ist der Satanismus
der tiefste Abfall vom Heiland, den menschliche Gedanken er¬
messen können, und so handelt unser Theatersystem wohl nur
folgerichtig, wenn es ihn gerade an den hohen Festtagen der
christlichen Kirche von der Bühne herab so wirkungsvoll pro¬
pagiert.
Wenn man im Satanismus den souverän gewordenen
menschlichen Egoismus erblickt, muß er zum sexuellen Trieb als
zur konzentriertesten Form zugleich des sinnlichen Egoismus und
des sinnlichen Genusses, in einem besonders intimen Verbältnis
stehen, und der Blocksberg hatte darum von je, nicht nur im
Faust, sondern auch im Volksglauben, mit der Unzucht seinen
Pakt. Es leuchtet darum ein, daß vom satanistischen Standvunkt
neben der satanistischen Philosophie Wedekinds im besonderen
auch die von Unzucht triefenden Stücke für die christlichen Feste
als besonders geeignet empfunden werden müssen. Der
Schnitzlersche Reigen“ hat innerhalb dieser Sphäre den be¬
sonderen Vorzug, daß er den latenten Gedanken enthält, daß der
Trieb der eigentliche Beweger der Menschheit sei, da er in den
Dialogen alle Klassenunterschiede aufhebt und den Grafen wie
die Straßendirste in der Gewalt hat. Das Kleine Schauspiel¬
haus in Charlottenburg war darum gut gestellt, daß es gerade
mit dem „Reigen“ die beiden Östertage begehen und den
Glauben an den Auferstehungssieg des Göttlichen mit einer
höhnischen Grimasse anspeien konnte.
Als die Schriftgelehrten in Jerusalem zusammenkamen, um
über die Kreuzigung Jesu zu verhandeln, gaben sie die Parole
aus: „Ja nicht auf das Fest, auf daß nicht ein Aufruhr werde
im Volk“ und sie töteten ihn infolgedessen auch nicht am
Sabbat, sondern am Tage vor dem Sabbat. Seitdem sind
zweitausend Jahre verflossen, und es ist also nur in der Ord¬
nung, daß die gegenwärtige Entwicklung am dürren Holze die
damalige am grünen übertrifft, wie es der Nazarener selbst auf
seinem letzten Gang so richtig erwartet und vorausgesagt hatte.
Die Kreuzigung darf heute nicht nur auf das Fest fallen, der
Heiland wird sogar an seinen eigenen hohen Festtagen von der
riumphierenden Unzucht gekreuzigt, angespien, verhöhnt, ver¬
lacht, und niemand darf den Berlinern mit Grund nachsagen
wollen, daß dadurch ein Aufruhr im Volk entstanden sei. Wäre
er aber entstanden, wäre er von der Polizei mit eiserner Faust
niedergeschlagen worden, denn seit der siegreichen Aufklärung der
Novemberrevolution schützen wir die Unzucht und betreiben die
Schändung des Heilands auf zahlreichen Bühnen. Wer aus
religiösen oder philosophischen Gründen den Nazarener liebt,
der die Menschen so unendlich gern zum Licht führen möchte,
oll darüber nicht allzu traurig sein. Das Wort des Nazareners
bleibt bis ans Ende der Tage, nur das deutsche Volk geht zu¬
grunde, und es ist ohne Zweifel besser, daß es zugrunde geht,
als daß es in der gegenwärtigen Form weiterlebe. Wir wer¬
den dann zwar unter den abstoßenden Erscheinungen des Fäul¬
nisprozesses zu leiden haben, die sie aber am wenigsten ertragen
hätten, sind gefallen, und wenn die andern die Kraft zum
Widerstand nicht finden, werden sie sich ja wohl mit ihnen ab¬
zufinden wissen.