11. Reigen
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Bolin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Tageblatt.
Zeitung:
Ort:
übe 1.
1
Datum:
Berliner Plauderei.
Schnitzlers „Reigen“; Berliner Sommer¬
sonntagsfreude.
Schnitzlers „Reigen“ ist kein Lesestück für die
„herenwachsende“ oder die „reifere“ Jugend,
das sreht fest! Ebenso steht für jeden Einsich¬
tigen, den Herrn Verfasser eingeschlossen,
außer Zweifel, daß diese bunte Folge von höchst¬
verdächtigen Bildern sich vielleicht als Lesestoff
für sehr Erwachsene, keinesfalls aber als Büh¬
nenstück für die weitere Oeffentlichkeit eignet
Als sich daher das kleine Schauspielhaus in
Charlottenburg zur Rettung aus Schwierigkei¬
ten (was schon an sich keinen sehr brauchbaren
Beweggrund für die Auswahl eines Stückes be¬
deutet) entschloß, den „Reigen“ über die Bretter
schwingen zu lassen, da entschied sich der gehor¬
samst Unterfertigte, diese Kunststätte schon aus
künstlerischen Geschmacksgründen zu meiden,
box 18/1
und als ungefähr die 135. Wiederholung vor gut
besetztem Hause vorüberzog, da saß auch der
Unterfertigte trotz alledem inmitten des harren¬
den Zuschauerkreises. Denn erstlich: man liest
nicht ungestraft die ständig wiederholten Mittei¬
lungen über die mehr oder weniger bedeut¬
amen Theaterskandale und =Skandälchen bei
ast allen Erstaufführungen des „Reigen“ in
iesen und jenen Städten. Zum andern: über¬
haupt und so!“! Zum dritten: man möchte sich
doch einmal gern die Theatermenschheit an¬
sehen, die sich ihrerseits dieses Stück ansieht
In der drittgenannten entschuldigenden Bezie¬
hung bin ich durchaus auf meine Kosten gekom¬
men; das Stück selbst dagegen hat mich, durch¬
aus erwarteterweiser, kühl bis ans Herz ge¬
assen. Es hat bei mir nur die Ueberzeugung
von seiner unbedingten Entbehrlichkeit als Büh¬
nenereignis verstärkt. Aber der Anblick des
vexehrlichen Publikums genügt, um den Abend
zu retten!
Als Sondenerscheinungen fallen zunächst einige
bemerkenswert gut und gediegen aussehende
Ehepaare auf; Typus: Landjunker oder Gro߬
industrielle von irgend einem Gute in Pom¬
mern oder einem alleinstehenden Großwerk in
der Lausitz, in Oberschlesien oder in Westfalen,
kurzum Männer, die man selbst einstmals bei
Reichstagswahlen im Kampfe um die Getreibe¬
zölle oder um die Sozialgesetzgebung mit den
düstersten Farben geschildert hat, die sich aber
bei persönlicher Bekanntschaft als höchst acht¬
bare, tüchtige und gebildete Mitbürger zu ent¬
puppen pflegen. Sie weilen geschäftlich in der
Hauptstadt, haben ihre Frauen mitgebracht und
wollen einmal etwas „Besonderes“ sehen. Da¬
neben eine erkeckliche Anzahl erheblich über¬
reifer Frauen, meist zu zweit und dritt auftre¬
tend, auffällig, seidenrauschend, geräuschvoll
Dazwischen vereinzelte scharfäugende, bezwik¬
kerte, skeptische ältere Herren; und im übrigen
viel, sehr viel grünes Gemüse, ausnahmslos in
atemlosen Pärlein geeint. Schräg vor mir sitzt
beisvielsweise eine große Blonde neben einem
kleinen Herrlein. Rätselhaft bleibt es mir, wie
diese stattliche Erscheinung während der Vor¬
stellung förmlich in ihrem kleinen Kavalier zu
verschwinden vermag, um erst während der
Pause und am Ende der Vorstellung wieder aus
ihm hervorzutauchen. „Reigen“ auf der Bühne
und im Herzen dieser ehrenwerten Mitbesucher!
Die Eintrittspreise sind hoch, sehr hoch; aber all
diese Leutchen nehmen sichtlich eine entsprechend
reiche Belehrung mit auf ihren weiteren Abend¬
weg. Nach diesem unkünstlerischen Eindruck der
Besucher verstehe ich, daß beispielsweise das
Freiburger Bezirksamt die Aufführung des
„Reigen“ verbietet. Aber ich gebe mich auch
keiner Täuschung hin, daß die Durchschnittsbe¬
ucher des „Reigen“ alles das, was gerade sie
in diesem Stück suchen, auch auf sonstige Weise
finden werden!
*
73 500 ist eine schöne Zahl! In der Mehrzahl
unserer badischen Städte muß man alle lebenden
Menschenkinder vom ältesten Greis bis zum
jüngsten Säugling zusammenraffen, um zu die¬
ser Anzahl zu gelangen. In Berlin aber stellt
ie Summe von 73.500 nur die Menschenmenge
dar, die an den einzelnen heißen Sonntagen
allein nach dem Flecken Grünau („Irünau“) mit
der Vorortsbahn flüchten. Was dagegen insge¬
samt an Berliner Menschheit auf den Berliner
Strecken umhergondelt, das beläuft sich durch¬
schnittlich an den einzelnen Sonntagen auf 2,1
Million Fahrgäste! Man kann sich das gehobene
Lustempfinden vorstellen, mit dem man sich an
einem solchen heißen Feiertag den überfüllten
Berliner Vorortsstrecken als zweimillionen¬
einhunderttausendundeinter Fahrgast anper¬
traut! An erster Stelle steht begreiflicherweise
der Verkehr nach Ausflugsorten mit Freibä¬
dern (Grünau 73 500, Nikolassee 66 000, Rahns¬
dorf 44 600 usw.). Die armen Uferstrecken der
Havel, der Spree, der Dahme und der verschie¬
denen Seen müssen viel erdulden, bis jeder
freiwasserdurstige Berliner samt Kind, Mutter
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Bureau für Zeitungsausschnitte
Bolin NO. 43, Georgenkirchplatz 21
Tageblatt.
Zeitung:
Ort:
übe 1.
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Datum:
Berliner Plauderei.
Schnitzlers „Reigen“; Berliner Sommer¬
sonntagsfreude.
Schnitzlers „Reigen“ ist kein Lesestück für die
„herenwachsende“ oder die „reifere“ Jugend,
das sreht fest! Ebenso steht für jeden Einsich¬
tigen, den Herrn Verfasser eingeschlossen,
außer Zweifel, daß diese bunte Folge von höchst¬
verdächtigen Bildern sich vielleicht als Lesestoff
für sehr Erwachsene, keinesfalls aber als Büh¬
nenstück für die weitere Oeffentlichkeit eignet
Als sich daher das kleine Schauspielhaus in
Charlottenburg zur Rettung aus Schwierigkei¬
ten (was schon an sich keinen sehr brauchbaren
Beweggrund für die Auswahl eines Stückes be¬
deutet) entschloß, den „Reigen“ über die Bretter
schwingen zu lassen, da entschied sich der gehor¬
samst Unterfertigte, diese Kunststätte schon aus
künstlerischen Geschmacksgründen zu meiden,
box 18/1
und als ungefähr die 135. Wiederholung vor gut
besetztem Hause vorüberzog, da saß auch der
Unterfertigte trotz alledem inmitten des harren¬
den Zuschauerkreises. Denn erstlich: man liest
nicht ungestraft die ständig wiederholten Mittei¬
lungen über die mehr oder weniger bedeut¬
amen Theaterskandale und =Skandälchen bei
ast allen Erstaufführungen des „Reigen“ in
iesen und jenen Städten. Zum andern: über¬
haupt und so!“! Zum dritten: man möchte sich
doch einmal gern die Theatermenschheit an¬
sehen, die sich ihrerseits dieses Stück ansieht
In der drittgenannten entschuldigenden Bezie¬
hung bin ich durchaus auf meine Kosten gekom¬
men; das Stück selbst dagegen hat mich, durch¬
aus erwarteterweiser, kühl bis ans Herz ge¬
assen. Es hat bei mir nur die Ueberzeugung
von seiner unbedingten Entbehrlichkeit als Büh¬
nenereignis verstärkt. Aber der Anblick des
vexehrlichen Publikums genügt, um den Abend
zu retten!
Als Sondenerscheinungen fallen zunächst einige
bemerkenswert gut und gediegen aussehende
Ehepaare auf; Typus: Landjunker oder Gro߬
industrielle von irgend einem Gute in Pom¬
mern oder einem alleinstehenden Großwerk in
der Lausitz, in Oberschlesien oder in Westfalen,
kurzum Männer, die man selbst einstmals bei
Reichstagswahlen im Kampfe um die Getreibe¬
zölle oder um die Sozialgesetzgebung mit den
düstersten Farben geschildert hat, die sich aber
bei persönlicher Bekanntschaft als höchst acht¬
bare, tüchtige und gebildete Mitbürger zu ent¬
puppen pflegen. Sie weilen geschäftlich in der
Hauptstadt, haben ihre Frauen mitgebracht und
wollen einmal etwas „Besonderes“ sehen. Da¬
neben eine erkeckliche Anzahl erheblich über¬
reifer Frauen, meist zu zweit und dritt auftre¬
tend, auffällig, seidenrauschend, geräuschvoll
Dazwischen vereinzelte scharfäugende, bezwik¬
kerte, skeptische ältere Herren; und im übrigen
viel, sehr viel grünes Gemüse, ausnahmslos in
atemlosen Pärlein geeint. Schräg vor mir sitzt
beisvielsweise eine große Blonde neben einem
kleinen Herrlein. Rätselhaft bleibt es mir, wie
diese stattliche Erscheinung während der Vor¬
stellung förmlich in ihrem kleinen Kavalier zu
verschwinden vermag, um erst während der
Pause und am Ende der Vorstellung wieder aus
ihm hervorzutauchen. „Reigen“ auf der Bühne
und im Herzen dieser ehrenwerten Mitbesucher!
Die Eintrittspreise sind hoch, sehr hoch; aber all
diese Leutchen nehmen sichtlich eine entsprechend
reiche Belehrung mit auf ihren weiteren Abend¬
weg. Nach diesem unkünstlerischen Eindruck der
Besucher verstehe ich, daß beispielsweise das
Freiburger Bezirksamt die Aufführung des
„Reigen“ verbietet. Aber ich gebe mich auch
keiner Täuschung hin, daß die Durchschnittsbe¬
ucher des „Reigen“ alles das, was gerade sie
in diesem Stück suchen, auch auf sonstige Weise
finden werden!
*
73 500 ist eine schöne Zahl! In der Mehrzahl
unserer badischen Städte muß man alle lebenden
Menschenkinder vom ältesten Greis bis zum
jüngsten Säugling zusammenraffen, um zu die¬
ser Anzahl zu gelangen. In Berlin aber stellt
ie Summe von 73.500 nur die Menschenmenge
dar, die an den einzelnen heißen Sonntagen
allein nach dem Flecken Grünau („Irünau“) mit
der Vorortsbahn flüchten. Was dagegen insge¬
samt an Berliner Menschheit auf den Berliner
Strecken umhergondelt, das beläuft sich durch¬
schnittlich an den einzelnen Sonntagen auf 2,1
Million Fahrgäste! Man kann sich das gehobene
Lustempfinden vorstellen, mit dem man sich an
einem solchen heißen Feiertag den überfüllten
Berliner Vorortsstrecken als zweimillionen¬
einhunderttausendundeinter Fahrgast anper¬
traut! An erster Stelle steht begreiflicherweise
der Verkehr nach Ausflugsorten mit Freibä¬
dern (Grünau 73 500, Nikolassee 66 000, Rahns¬
dorf 44 600 usw.). Die armen Uferstrecken der
Havel, der Spree, der Dahme und der verschie¬
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