11. Reigen
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sie — wie alle Begriffe von Moral, Sitte, Gefühl zu Seifenblasen
werden, die vor ihrem Hauch zerstieben, — das ist entsetzlich komisch,
das ist von einer grinsenden Tragik. Es wäre grandios, wenn ein
Großer auf der Bühne stünde. Wedekind ist in seinen besten Stunden
ein Clown, der uns amüsiert. Aber er kann nur einen Purzelbaum
schlagen, die Volte mißlingt ihm.
So bleibt „Erdgeist“ in seinen ironischen satirischen und
höhnischen Absichten stecken. Die Figuren sind da, famos silhonettiert,
das Drama ist uns der Dichter schuldig geblieben. Eines muß indes
gesagt werden: Es gelang Wedekind, in seiner Heldin Lulu einen
Typus zu schaffen, eine moderne Eva. Und alle Menschen, die sich
vor ihr entblößen, leben lebendigstes Leben. Aber sie sind alle nur
kizziert. Die Skizze gehört ins Atelier, nicht vors große Publikum.
Die Atelierleute werden immer in Wedekinds Sachen eine Fülle des
Interessanten finden, die Menge wird ihn mißverstehen, und wenn
ie ihn versteht — wird sie ihn auspfeifen. Denn die Menschen lieben
es nicht, wenn man sie nackt, ohne Feigenblatt, auf eine beleuchtete
Bühne stellt.
Die Aufführung des Erdgeist“ durchs Kleine Theater war aus¬
gezeichnet. Insbesonders durch Herrn Reicher, den menschlichsten deutschen
Schauspieler, und Fräulein Eysoldt, die als Luln von jener kindlich
unbewußten, süßen, tollen Niederträchtigkeit war, mit der der gefallene
Engel im Weibchen seit Evas Zeiten die Männer zum Knien in den
Kot zwang, um mit rosiger Sohle über sie wegzuschreiten, neuem Spiel¬
zeug entgegen.
Rudolf Strauß.
77
Der Pornograph Schnitzler.
Arthur Schnitzler ist ein Pornograph — recht häufig mußte ich
in letzter Zeit diese Worte hören, wenn von des Dichters neuester
Schrift, der Dialogserie „Reigen“, die arg empörte Rede war. Ich
protestierte anfangs aus der Kenntnis des Dichters, nicht des Werkes
heraus. Schließlich wurde ich trotz aller Sympathie für ihn doch stutzig,
nahm sein besudeltes Buch entschlossen zur Hand und prüfte es auf
eine Sittlichkeit.
Was ich da sah? Eine Komödie in zehn Acten der Liebe. Zehn
Paare vor, in und nach jenem Vorgang, der das Leben schafft.
Personen: Die Dirne — der Soldat; der Soldat — das Stuben¬
mädchen; das Stubenmädchen — der junge Herr; der junge Herr
die junge Frau; die junge Frau — der Ehegatte; der Ehegatte
— das
süße Mädel; das süße Mädel — der Dichter; der Dichter — die
Schauspielerin; die Schauspielerin — der Graf; der Graf — die Dirne.
Jede einzelne dieser Szenen von einem Realismus, der zweifellos
nicht mehr zu übertrumpfen ist, von einer charakteristischen Anschau¬
lichkeit und Ungeniertheit ohnegleichen.
Und ich war mir klar: isoliert, für sich betrachtet, ist jeder dieser
Ausschnitte aus dem Geschlechtsleben pornographisch; wenn er nichts
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sie — wie alle Begriffe von Moral, Sitte, Gefühl zu Seifenblasen
werden, die vor ihrem Hauch zerstieben, — das ist entsetzlich komisch,
das ist von einer grinsenden Tragik. Es wäre grandios, wenn ein
Großer auf der Bühne stünde. Wedekind ist in seinen besten Stunden
ein Clown, der uns amüsiert. Aber er kann nur einen Purzelbaum
schlagen, die Volte mißlingt ihm.
So bleibt „Erdgeist“ in seinen ironischen satirischen und
höhnischen Absichten stecken. Die Figuren sind da, famos silhonettiert,
das Drama ist uns der Dichter schuldig geblieben. Eines muß indes
gesagt werden: Es gelang Wedekind, in seiner Heldin Lulu einen
Typus zu schaffen, eine moderne Eva. Und alle Menschen, die sich
vor ihr entblößen, leben lebendigstes Leben. Aber sie sind alle nur
kizziert. Die Skizze gehört ins Atelier, nicht vors große Publikum.
Die Atelierleute werden immer in Wedekinds Sachen eine Fülle des
Interessanten finden, die Menge wird ihn mißverstehen, und wenn
ie ihn versteht — wird sie ihn auspfeifen. Denn die Menschen lieben
es nicht, wenn man sie nackt, ohne Feigenblatt, auf eine beleuchtete
Bühne stellt.
Die Aufführung des Erdgeist“ durchs Kleine Theater war aus¬
gezeichnet. Insbesonders durch Herrn Reicher, den menschlichsten deutschen
Schauspieler, und Fräulein Eysoldt, die als Luln von jener kindlich
unbewußten, süßen, tollen Niederträchtigkeit war, mit der der gefallene
Engel im Weibchen seit Evas Zeiten die Männer zum Knien in den
Kot zwang, um mit rosiger Sohle über sie wegzuschreiten, neuem Spiel¬
zeug entgegen.
Rudolf Strauß.
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Der Pornograph Schnitzler.
Arthur Schnitzler ist ein Pornograph — recht häufig mußte ich
in letzter Zeit diese Worte hören, wenn von des Dichters neuester
Schrift, der Dialogserie „Reigen“, die arg empörte Rede war. Ich
protestierte anfangs aus der Kenntnis des Dichters, nicht des Werkes
heraus. Schließlich wurde ich trotz aller Sympathie für ihn doch stutzig,
nahm sein besudeltes Buch entschlossen zur Hand und prüfte es auf
eine Sittlichkeit.
Was ich da sah? Eine Komödie in zehn Acten der Liebe. Zehn
Paare vor, in und nach jenem Vorgang, der das Leben schafft.
Personen: Die Dirne — der Soldat; der Soldat — das Stuben¬
mädchen; das Stubenmädchen — der junge Herr; der junge Herr
die junge Frau; die junge Frau — der Ehegatte; der Ehegatte
— das
süße Mädel; das süße Mädel — der Dichter; der Dichter — die
Schauspielerin; die Schauspielerin — der Graf; der Graf — die Dirne.
Jede einzelne dieser Szenen von einem Realismus, der zweifellos
nicht mehr zu übertrumpfen ist, von einer charakteristischen Anschau¬
lichkeit und Ungeniertheit ohnegleichen.
Und ich war mir klar: isoliert, für sich betrachtet, ist jeder dieser
Ausschnitte aus dem Geschlechtsleben pornographisch; wenn er nichts
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