II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 831

11. Reigen
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hang im Auge behalten, nicht das Ganze überblicken, sondern im Detail
stecken bleiben, nur sie können Schnitzler wütend jetzt der Porno¬
graphie zeihen. Jeder andere wird schon aus der Anlage, der
Disposition, der Form des Buches erkennen, daß es Bringer einer
Botschaft, Träger einer Idee ist. Ob das jene Idee ist, die meine
Wenigkeit hier herauslas, ist eine andere Frage — aber zweifellos
eine von sekundärer Bedeutung.
Frißz Mauthner (Berlin).
Aus dem M#chenbuche der Wahrheit.
Auf der Böh'.
Zwei Ziegel, aus gleichem Lehm geformt und in gleichem Feuer
gebrannt, lagen im Haufen neben dem Bau. Werkleute bauten das
Grab eines Menschen. Der Mensch war ein Pharao gewesen, und
darum bauten zwanzigtausend Werkleute zwanzig Jahre lang an
seinem Grabe. Man nannte es eine Pyramide.
Tief im Sande der Ebene wurde der erste der beiden Ziegel¬
steine mit Mörtel gebunden, zu unterst in das Grundlager der Pyra¬
mide. Auf den zweiten Ziegel schichteten dann die Steinträger zwanzig
Jahre lang immer neue Losten von Ziegelsteinen für den Bau, bis
das Grab des Pharao endlich fast fertig war. Da kam der zweite
Ziegel zum Vorschein, und die Werkleute fügten ihn mit Mörtel in
die oberste Schicht der Pyramide.
Er horchte. Er rief hinunter, seinem Bruderziegel zu:
„Atsch! Ich bin auf der Höh'! Ich bin oben! Ich habe es
um siebzig Klafte## iter gebracht als du! Atsch!“
Der unter##l wollte etwas Kluges antworten; aber er ver¬
mochte nicht sic, zu rühren.
Vier graue, müde Jahrtausende saßen auf der Pyramide und
schauten blind über das Niltal hin. Sie warteten. Sie besaßen gar
nichts als Zeit.
Eines Tages kam ein Reisender zu ihnen hinauf auf den Gipfel
der Pyramide. Er stellte sich den Jahrtausenden als ein Kulturmensch
vor, als einer vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Jahr¬
tausende aber drängten sich als lichtlose Wolken um das Haupt der
Der Reisende war auf einem Dampfschiff nach Agypten ge¬
kommen und auf der Eisenbahn bis zum Fuß der Pyramide. Er
trug Hosenträger und hatte ein elektrisches Feuerzeug und ein Fern¬
rohr. Mit dem Feuerzeug zündete er sich eine Zigarette an, durch
das Fernrohr betrachtete er die Aussicht. Der Hosenträger gedachte
er gar nicht.
„Atsch!“ rief er zu dem schlafenden Pharao hinab. „Atsch!
Du altes Fossil! Du alter Apisknecht! Selber Ochse! Ich bin ein
Christ! Ein Staatsbürger unserer herrlichen Zeit! Jetzt ist die
Jetztzeit!“