II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 841

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Reigen
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DAS KLEINE SCHAUSPIELHAUS
Gutachten
des Sachverständigen der Genossenschaft deutscher Bühnen-
Angehöriger, Herrn Emil Lind.
Arthur Schnitzler ist Dichter und Arzt. Diese Verbindung gibt seiner
Fantasie Fundameni und Richtung. Er ist der Spezialist für jene Mensch¬
lichkeiten, in denen Seelisches und Leibliches zusammenfließen, insbesondere
der psycho-physiologische Zustand der Erotik und der der letzten Stunden vor
dem Tode, nicht selten diese beiden menschlichen Stationen zusammen,
finden in seiner Gestaltungskraft Aufhellung und weisen damit für Tausende
den Weg zum Verständnis ihrer selbst. Eine negative Abart dieser Methode
ist die Satire. Doch hat sie denselben inneren (dem Dichter unwichtigen)
Zweck: durch geistige Klarheit zu heben, zu veredeln. Dem oberflächlichen
Beurteiler mag seine Psychologie spielerisch erscheinen, es ist aber nur
die geschlossene, facettierte und abgeklärte Form, die diesen Eindruck
erzeugt. In Wirklichkeit steckt ein tiefer sittlicher Ernst in allen seinen
Problemen und deren Behandlung.
Im „Reigen“, der aus der besten Zeit des Dichters stammt, finden sich
all diese Ingredienzien wieder. Nur wer absolut kein Organ für schwerlose
Grazie, für zierlichen Spott, für wehmütigen Humor, kurz, für kultivierte
Form besitzt, wer also in unsern entwickelten Zeiten ein abnormaler Mensch
ist, kann hier von Pornographie sprechen. Der normale Mensch muß sich
durch diese subtile Behandlung an sich heikler Dinge in eine Sphäre gehoben
fühlen, die alles Grobkernige vergeistigt und auf diesem Wege absorbiert.
Niemals kann ein offenes Aussprechen gewisser Lebenszustände durch einen
Dichter die schlechten Instinkte reizen, dies geschieht immer nur durch das halb
verhüllte, mit den Augen zwinkernde, schleimige Andeuten der Macher und Sudler.
Was aber noch an gefährlichem Reiz im Buch enthalten sein mag, hat die
Aufführung des „Reigen“ vollends entfernt. Es ist eine fast überdezente
Darstellung, bei der sowohl in der Sprache, wie auch in Mimik und Geste
jedes Unterstreichen vermieden ist. Die kurzen Unterbrechungen der Szenen
wirken wie gewöhnliche Zwischenakte; die Liebesszenen sind in vielen
anderen Stücken weit realistischer gespielt worden, ohne Anstoß zu erregen,
auch wenn sie in dichterisch leeren Werken vorkamen. Ja, man kann sagen,
daß zu Gunsten der Diskretion nicht nur auf grobsinnliche, sondern sogar
auf künstlerische Effekte verzichtet wurde. Auf Grund meiner mehr als
fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit an den ersten Bühnen Deutschlands komme
ich nach bestem Wissen und Gewissen zum Schlusse, daß an dieser Auf¬
führung unmöglich „Anstoß“ nehmen kann, wer natürliche Dinge mit
geraden Augen ohne Pharisäerblick betrachtet. Wollte man den Maßstab
echter oder falscher Moralfexen an die Literatur legen, früßte ein großer
Teil der besten Dichtwerke und schließlich auch die Bibel vercoten werden.
Berlin, den 10. Mätz 1921.
gez. Emil Lind
Dramaturg und Regisseur am Lessingtheater.
Mitglied des Verwaltungsrates der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehörigen.
Herausgeber der „Freien Deutschen Bühne“.
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