II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 885

11. Reigen
box 18/2
Freitaa. 4. November 1921
Rlole & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin IO. 45, Georgenkirchplatz 21!
1706
Vossische Zee
Zeitung:
irte
Berlin
Ort: —
der M
=26
Datum: —
1
Sachorisanbihe in Kanstprozessen.
Von
Wolfgang Heine,
Staatsminister a. D.
Die Stellung der Sachverständigen in den Sittlichkeits¬
prozessen gegen Kunstwerke hat in den letzten Tagen die
Oeffentlichkeit beschäftigt und wird in Künstler= und Juristen¬
kreisen viel besprochen. Mit vollem Recht bäumt sich das
Empfinden aller Künstler und Kunstfreunde dagegen auf,
daß an große Werke, in denen schöpferische Kraft sich aus¬
wirkt, kleinliche Maßstäbe einer Buchstabenauslegung und
kinderstubenhaften Aengstlichkeit angelegt werden. Anderer¬
seits wollen die Richter ihr Recht zur Handhabung und Aus¬
legung der „Gesetze nicht an die Sachverständigen abtreten.
Ich wünschte nun keineswegs, daß die Meinung von Sach¬
verständigen, ob ein Kunstwerk als strafrechtlich unzüchtig
angesehen werden könnte, für das Gericht bindend sein
müßte. Ich möchterdas Gutachten der Sachverständigen schon
deshalb nicht als zwingend anerkennen, weil sonst vermut¬
lich in allen Prozessen als einziger und maßgeblicher Gut¬
achter Herr Professor Brunner oder andere Kinder des¬
selben Geistes aufmarschieren würden. Das Prinzip der Frei¬
heit richterlicher Beweiswürdigung und Entscheidung hat
sich im allgemeinen so bewährt, daß man für besondere Ge¬
biete davon keine Ausnahme machen darf, auch wenn Fehl¬
urteile dabei herausgekommen sind. Trotzdem sind Sachver¬
ständige, die in der Kunst daheim sind, sei es als selbstprodu¬
zierende Künstler, sei es durch die Gewohnheit und Uebung,
Kunstwerke in sich aufzunehmen und das ihnen Wesentliche zu
verstehen, bei der Beurteilung solcher Fragen unentbehrlich,
und will der Richter seine Freiheit nicht zur Willkür werden
lassen und die Rechtspflege auf den Tiefstand gewöhnlichen
Philistertums herabziehen, so darf er das, was von solcher
Seite gesagt wird, nicht in den Wind schlagen
Dies folgt ohne weiteres aus dem strafrechtlichen Begriffe
des „Unzüchtigen“. Eine „unzüchtige Handlung“ im Sinne
des § 183 St.=G.=B. muß das Scham= und Sittlichkeits¬
gefühl im allgemeinen verletzen und in geschlechtlicher
Beziehung die Rücksichten außer acht lassen, die zur Aufrecht¬
erhaltung von Zucht und Sitte geboten sind, und dadurch
öffentlich ein Aergernis geben. „Unzüchtige Schrift oder
Darstellung“ im Sinne des § 184 muß (wie das Reichs¬
gericht nicht gerade glücklich sich ausdrückt) das Scham= und
Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden Menschen in
geschlechtlicher Beziehung verletzen. In beiden Fällen spielt
also ein allgemeines Empfinden, die Rücksicht auf die
Aufnahme der Handlung oder des Werkes durch die
Oeffentlichkeit eine Rolle. Eine unverständige Praxis
möchte nun annehmen, daß, wenn auch nur ein Mensch
Aergernis genommen habe, dies für die Unzüchtigkeit aus¬
reichend sei. In solchem Falle stellt sich der Denunziant ein,
der das „vorschriftsmäßige Aergernis“ zu
nehmen pflegt; mögen dann noch so viele erleuchtete und
freie Geister Erhebung und Genuß an dem Werk empfinden,
die Dummheit und Roheit siegen. Zu einer Verkehrtheit
nötigt aber das Gesetz nicht, auch nicht in seiner immer
subtiler und dabei ungeistiger gewordenen Auslegung. Auch
die Praxis des Reichsgerichts greift nur auf die allge¬
meinen Sitten, auf das normale Empfinden zurück
und schließt deshalb die Rücksicht auf bornierten Unverstand