II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 935

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Reigen
Beim Referenten liegt doch oftmals die Entscheidung einer
Sache! Als Referent kann ein Abgeordneter seine Fähig¬
befangener Gäste ab, die, dann als Zeugen herangezogen,
das „ungefälschte Volksempfinden“ verkörpern sollten. Nun
hieß es allerdings, daß sich Anhänger und Anhängerinnen
der deutschnationalen Volkspartei mit Hilfe gewisser Organe
des Polizeipräsidiums besonders zahlreich in den Zuschauer¬
raum einzunisten wußten. Doch wie dem auch sei, auf einmal
fah man eine unerwartet große Zahl von Sittlichkeits¬
fanatikern aufmarschieren und der juristische Lehrsatz von
dem relativen Wert aller Zeugenaussagen bewahrheitete sich
in erschreckendem Ausmaße.
Es erscheint für die künftige Rechtspraxis von nicht
unerheblicher Bedeutung, was im Laufe dieser Verhandlung
an sinnlichen und sittlichen Wahrnehmungen unbedenklich
vorgebracht wurde. Eine über alle Maßen prüde Dame tat
insbesondere darüber entrüstet, daß eine der Haupt¬
darstellerinnen auf offener Szene ihre Bluse zugeknöpft
habe. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob denn die Bluse
vorher tatsächlich offen war, antwortete sie, daran könne sie
sich nicht mehr erinnern. Ein ehrbarer Familienvater gab
an, während der ganzen Vorstellung daran gedacht zu
haben, wie entsetzlich es doch wäre, wenn seine Tochter diese
„Schamlosigkeiten“ mit ansehen würde. Als auf diskrete
Weise nach dem Alter dieser schamhaft Erzogenen geforscht
wird, stellt es sich allerdings heraus, sie habe ihr fünftes
Lebensjahr noch nicht überschritten. Modernere Erziehungs¬
methoden bekundet eine ebenfalls als Zeugin vernommene
Mutter, die ihren neunzehnjährigen Sohn zur Vorstellung
mitnahm, um, wie sie unter allgemeiner Heiterkeit mit er¬
hobener Stimme behauptet, auf sein Gemüt abschreckend
zu wirken,
Das tragende Moment der Verhandlung aber war der
eigentümliche Gemütsgegensatz zwischen dem Gutachten des
Hauptfachverständigen Professor Brunner und dem Fach¬
urteil der ersten Literaten und Kritiker Berlins. Hier er¬
wies es sich denn deutlicher wie je zuvor, daß es keine
schematisch anwendbare Sachverständigennormen zur Fest¬
stellung von Unzüchtigkeiten gebe, die auf literarischem oder
künstlerischem Gebiete begangen worden seien, sondern daß
H bechse eine Gerhseg:
parlamentarischen Rechtes der Vertreter von fast vier
Millionen Steuerträgern, wenn man in den Kommissionen,
die Kunstübung von Epoche zu Epoche und von Fall zu
Fall in der Widerspiegelung der herrschenden sozialen Zu¬
stände ihre eigene Form= und Sittenlehre schaffe, deren
einzig berufener Interpretant eben der bewährie Kunst¬
kenner sei.
Bei der Erscheinung Brunners lohnt es sich, ein klein
wenig zu verweilen. Er ist ein besonders sinnfälliger Typus
jener prophetisch Angehauchten, die Sittlichkeitskunde au
Grundlage einer konservativen Weltauffassung, ja mehr noch
auf Grundlage einer konservativen Parteistellung betreiben.
Aus dem Gymnasiallehrerstande hervorgegangen, gelang
es Professor Brunner noch während der kaiserlichen Aera,
ich kraft seiner philologischen Kenntnisse zur Würde eines
polizeilichen Sachverstundigen in Fällen „zweifelhafter
Kunstmoral“ emporzuschwingen. Die schutzmannschaftliche
Moralschnüffelei ist bekanntlich in der deutschen Reichs¬
hauptstadt von jeher mit dem größten Sacheifer praktiziert
worden. Professor Brunner aber legte seinem Feldzug
empfindsame Motive der nationalen Erbitterung zugrunde.
in
Mit der Tatsache des machtpolitischen Verfalles war
der
seiner Vorstellung — wie in der vieler Angehörigen
äußersten politischen Rechten — das Bild einer jähen
lichen Zerrüttung aufs engste verknüpft. Die demokrat
Staatsform, wie sie sich auf den Trümmern der alten
autoritativen Herrlichkeit eingerichtet hat, scheint ihm ein
Quell aller sittlichen Störungen, die im neuen Reiche der
Demütigungen und Reparationen gewiß häufiger als im
alten Orhnungsstaate in Erscheinung treten. Zu diesem
Eindruck gesellt sich, wenn schon kaum mit tendenziöser Ab¬
sichtlichkeit, ein merkwürdiges Uebergreifen in die landes¬
übliche antisemitische Dialektik. Wenn Kunstprooukten, wie
Schnitzlers „Reigen“, das Zuwiderlaufende der „christlichen
Weltanschauung entgegengehalten wird, so ist es immerhin
schwer, sich einer solchen Wahrnehmung mit Erfolg zu
erwehren.
In neuester Zeit sah sich also Herr Professor Brunner
aus dem Gefühl des patriotischen Schmerzes heraus von
einer Fülle der Amtsgeschäfte arg bedrängt. Es galt, in
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