II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 936

11. Reigen
h oftmals die Entscheidung einer
sin ein Abgeordneter seine Fähig¬
dann als Zeugen herangezogen,
ipfinden“ verkörpern sollten. Nun
sch Anhänger und Anhängerinnen
spartei mit Hilfe gewisser Organe
pnders zahlreich in den Zuschauer¬
Doch wie dem auchs auf einmal
tet große Zahl von Sittlichkeits¬
und der juristische Lehrsatz von
Zeugenaussagen bewahrheitete sich
ße.
künftige Rechtspraxis von nicht
was im Laufe dieser Verhandlung
hen Wahrnehmungen unbedenklich
über alle Maßen prüde Dame tat
trüstet, daß eine der Haupt¬
hner Szene ihre Bluse zugeknöpft
8Vorsitzenden, ob denn die Bluse
Par, antwortete sie, daran könne sie
Ein ehrbarer Familienvater gab
en Vorstellung daran gedacht zu
doch wäre, wenn seine Tochter diese
ansehen würde. Als auf diskrete
ieser schamhaft Erzogenen geforscht
dings heraus, sie habe ihr fünftes
berschritten. Modernere Erziehungs¬
ebenfalls als Zeugin vernommene
ehnjährigen Sohn zur Vorstellung
knter allgemeiner Heiterkeit mit er¬
ptet, auf sein Gemüt abschreckend
nent der Verhandlung aber war der
gensatz zwischen dem Gutachten des
Professor Brunner und dem Fach¬
sten und Kritiker Berlins. Hier er¬
ficher wie je zuvor, daß es keine
te Sachverständigennormen zur Fest¬
keiten gebe, die auf literarischem oder
begangen worden seien, sondern daß
box 18/2
Lehse eine Seiger
parlamentarischen Rechtes der Vertreter von fast vier
Millionen Steuerträgern, wenn man in den Kommissionen,
die Kunstübung von Epoche zu Epoche und von Fall zu
Fall in der Widerspiegelung der herrschenden sozialen Zu¬
tände ihre eigene Form= und Sittenlehre schaffe, deren
einzig berufener Interpretant eben der bewährte Kunst¬
kenner sei.
Bei der Erscheinung Brunners lohnt es sich, ein klein
wenig zu verweilen. Er ist ein besonders sinnfälliger Typus
jener prophetisch Angehauchten, die Sittlichkeitskunde auf
Grundlage einer konservativen Weltauffassung, ja mehr noch
auf Grundlage einer konservativen Parteistellung betreiben.
Aus dem Gymnasiallehrerstande hervorgegangen, gelang
es Professor Brunner noch während der kaiserlichen Aera,
sich kraft seiner philologischen Kenntnisse zur Würde eines
polizeilichen Sachverstundigen in Fällen „zweifelhafter
Kunstmoral“ emporzuschwingen. Die schutzmannschaftliche
Moralschnüffelei ist bekanntlich in der deutschen Reichs¬
hauptstadt von jeher mit dem größten Sacheifer praktiziert
worden. Professor Brunner aber legte seinem Feldzug
empfindsame Motive der nationalen Erbitterung zugrunde.
Mit der Tatsache des machtpolitischen Verfalles war in
seiner Vorstellung — wie in der vieler Angehörigen der
äußersten politischen Rechten — das Bild einer jähen sitt¬
lichen Zerrüttung aufs engste verknüpft. Die demokratische
Staatsform, wie sie sich auf den Trümmern der alten
autoritativen Herrlichkeit eingerichtet hat, scheint ihm ein
Quell aller sittlichen Störungen, die im neuen Reiche der
Demütigungen und Reparationen gewiß häufiger als im
alten Ordnungsstaate in Erscheinung treten. Zu diesem
Eindruck gesellt sich, wenn schon kaum mit tendenziöser Ab¬
ichtlichkeit, ein merkwürdiges Uebergreifen in die landes¬
übliche antisemitische Dialektik. Wenn Kunstprodukten, wie
Schnitzlers „Reigen, das Zuwiderlaufende der „christlichen
Weltanschauung entgegengehalten wird, so ist es immerhin
chwer, sich einer solchen Wahrnehmung mit Erfolg zu
erwehren.
In neuester Zeit sah sich also Herr Professor Brunner
aus dem Gesühl des patriotischen Schmerzes heraus von
einer Fülle der Amtsgeschäfte arg bedrängt. Es galt, in
uue Juden ihren sesten Enhfetug
rasten, solange dieses großzügige Hilfswerk nicht zum
Erfolg geführt haben würde. Ueberdies liegt die wertvolle
das Dickicht der unästhetischen Offenbarung einzudringen
und womöglich alle Verquickungen und Anzüglichkeiten
sexueller Art als volksentartende Ungeheuerlichkeiten dem
Staatsanwalt einzuflüstern. So kam es in kurzen Inter¬
vallen dank Brunners sittenretiender Agilität zu etlichen
Strafprozessen gegen „ästhetische Unzucht. Unter anderm
blieb Professor Brunners Argusblick an einer Illustrations¬
sammlung hängen, die den Titel „Venuswagen“ führt (für¬
wahr, ein äußerst verdächtiger Titel!). Diese Sammlung,
im bekannten Berliner Kunstverlag Fritz Gurlitts erschienen,
schien in Brunners Augen vor allem durch eine Zeichnung
kompromittiert, die vom Meister schwebender, übersinnlicher
Formen, Lovis Corinth, stammend, eine geradezu meta¬
physische Farbenfablimierung er weiblichen Nacktheit bildet.
Der „Venuswagen=Prozeß“ gereichte der Kunstautorität
des Professors Brunner nicht zum besonderen Vorteil. Doch
ließ er sich durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken. Seine
Säuberungsaktion galt in der Folge mit ausschließlichem
Eiser dem Fall „Reigen: Schon von allem Anbeginn waren
ihm die Aufführungen des Kleinen Schauspielhauses ein
Dorn im Auge. Man munkelte bereits im vergangenen
Frühjahr, als die vorhin erwähnte Demonstration des
„Deutschnationalen Schutz= und Trutzbundes“ stattfand, einen
tieferen Zusammenhang mit seiner Person. Diese zehn
Dialoge, die alle und insgesamt auf denselben Endeffekt
hinauslaufen und die das angestrebte Endziel keineswegs
verhehlen, schienen dem pädagogischen Kunstkriminologen
Brunner einen derartig unzweideutigen Schuldbeweis zu
liefern, wie etwa Ehebrecherinnen, die auf frischer Tat er¬
tappt werden.
Dabei bedarf es fürwahr keiner so weit ausholenden
Gewaltsversuche, um in Berlin nach „Unmoral“ zu fahnden.
Es gibt eine Unsittlichkeit in höherem Sinne, die es gleicher¬
weise ist für die ethische und schöngeistige Betrachtung. Ethik
und Aesthetik — sie drängen beide auf Charakter. Und
durch die stil= und regellose Entwicklung Berlins zur Welt¬
taot während der letzten Jahrzehnte, durch den hastigen Zu¬
strom der Glücksjäger aus allen deutschen Gauen war ge¬