II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 944

und auf dem überdies ein Teil der Mannschaft meutert.
Ein deutscher Strafrichter über
die „Reigen“=Affäre.
Der gerichtete „Reigen“.
In dem in Berlin erscheinenden amtlichen Organ des Ver¬
bandes Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten „Der
geistige Arbeiter“, das, von Herbert Hirschberg herausgegeben, aus¬
gezeichnete Beiträge namhafter deutscher Schriftsteller und Schrift
steklerinnen enthält, veröffentlicht ein deutscher Strafrichter, Amts¬
gerichtsrat Fließ, die Eindrücke, die er während des „Reigen“.
Prozesses, der kürzlich in Berlin beendet wurde, empfangen hat,
und schreibt, daß die „Reigen“=Frage überhaupt keine Theaterfrage sei
„Zweifellos ist der Künstlerernst Schnitzlers darüber erhaben, als
Pornograph angesprochen zu werden; es ist völlig falsch, dahin¬
zielende Behauptungen aufzustellen. Sein Ansehen ist unter seiner
Zeitgenossen so verwurzelt, daß jede Bühnenleitung, zumal in
dieser Zeit, in der es kein nach idealen Gesichtspunkten arbeitendes
Theater mehr geben kann, ein jedes Bühnenwerk Schnitzlers
ohneweiters für das stets interessierte Publikum dieses Dichters
herausbringen würde.
Unzüchtige Absichten können in diesem Fall einem ernster
Theater ebensowenig nachgewiesen werden als gar dem Dichter
selbst. Deshalb war die Eröffnung des Hauptverfahrens ein ab
surder Fehler, der besser unterblieben wäre.
Der Reigen von Sachverständigen bewies denn auch, daß
die aufgewandten Mittel, die Streitfrage wirklich aufzuklären
völlig untauglich waren. Was von den meisten Gutachtern
ge¬
boten wurde, waren Schulweisheiten, die kaum den Kern
der
Sache berührten, obendrein war ihr Auftreten ein unschöner
Zweikampf zwischen zwei Gruppen, von denen aber keine den
Schein der Uninteressiertheit zu wahren vermochte. Ich hatte das
Empfinden, daß — wie bei den alten Medizinmännern
ganze Kampf schließlich mehr der eigenen Geltung als dem Objekte
elbst galt.
Wir leben in einer Zeit ausgesprochenen Kulturkampfes, der
bereits so stark in die Tiefe dringt, daß er selbst in Kleinigkeiten
(die ganze „Reigen“=Affäre ist an sich ja nichts anderes!) bis
zur Erbitterung durchgefochten wird. Wenn auch dieser Kultur
kampf zwischen Individualismus und Sozialismus gerade in
Deutschland seit etwa 400 Jahren schlimmer tobt als irgend
anderswo in der Welt, so wäre es doch falsch, anzunehmen, daß
er jemals lokal beschränkt gewesen sei. Selbst Staaten so überwiegend
individualistischer Zusammensetzung wie England und Amerika können
dem Kampfbeginn trotz aller Gegenmaßregeln nicht mehr ausweichen,
da die sozialistische Infektion bereits in fast alle einzelnen Individuen
der Kulturwelt so tief eingedrungen ist, daß fast alle Menschen bewußt
oder unbewußt in seelischem Gewissenshader zwischen diesen zwei
Weltanschauungen hin und her schwanken. Man darf es darum
auch nicht allzu tragisch nehmen, daß vor dem Reigengericht sich
zwei Kampfgruppen (Antisemiten und Juden) gegenübertraten. Das
Aufflackern des Antisemitismus in unserer Zeit ist an der wahren
Größe des tobenden Kulturkampfes gemessen nur eine nichtssagende
Nebenerscheinung, eine Reaktion auf äußere Vorgänge einer un¬
günstigen Zeit, die den stetigen Fortgang des gesamten Kampfes
kaum zu beeinflussen vermag. Ich halte es auch für durchaus
falsch, das Judentum in Bausch und Bogen als sozialistenfeindlich zu
betrachten; der Jude wird sich ebensowenig dem Seelenstreit der beiden
Weltanschauungen entziehen können wie jeder anders denkende Erden¬
bürger; soweit er rechtgläubig ist, genießt er sogar den Vorzug, in der
Prophetenreligion die sozialistischste aller Religionen seine eigne zu
neunen. Die liberalistische Tendenz, die große Teile der zeit¬
genössischen Juden kennzeichnet, wird in erster Linie von ihrer
Zugehörigkeit zu der besitzenden Klasse begründet, denen sie in
gleicher Weise eigen ist. In zweiter Linie vielleicht auch darin
daß unsere Juden, als im wesentlichen romanische Rassenangehörige,
naturgemäß die starke Inklination der deutschen Rasse zun
Sozialismus nicht haben und deshalb gegenüber dem rassenechten
Deutschtum in Fragen der Weltanschauung in gewissem Sinne
nachhinken. Die antisemitisch=jüdische Kampfform in der „Reigen“
Affäre erscheint deshalb nur episodisch und ist in diesem Zusammen¬
hang keiner ernsteren Betrachtung wert.
Von sundamentaler Wichtigkeit dagegen ist es, den Unsinn
jener These aufzuklären, die die Welle des Unmuts gegen den
„Reigen“ als Banausentum zu kennzeichnen sucht. Schulweise Ge¬
währsmänner gruppieren — das Gruppieren ist immer ein ver¬
dächtiger Zug — die Menschen in „künstlerische“ und „moralische“
Hat es denn je moralischere Messchen gegeben, als die großen
einzelne an Freiheit on chte zu Wusischen ubrig leh.¬
Soll mit diesen Artur Schnitzler auf eine Ebene gestellt
sein? Schnitzler ist ein Mensch, der, seit er schöpferisch hervor¬
trat, immer in innere Kämpfe gebunden war; Schnitzlersche Kunst¬
werke sind stets Erlebnisse innerer Konflikte, in diesem Sinne
individualistische Offenbarungen. Und man darf dem Dichter seine
Achtung dafür bezeugen, daß er seine Auseinandersetzung mit dem
sexuellen Problem, wie sie der Reigen darstellt, verständnisvoll
nur denen zugänglich machte, die sich für seine Persönlichkeit mehr
interessierten wie für seine Kunst, für seine persönlichen Freunde!
Der persönlich Interessierte schätzt solche Konfliktsäußerungen um
der Persönlichkeit willen. Ein großer Teil der Menge, die nichte
Näheres von Schnitzler, dem Menschen, weiß und lediglich um der
Kunst willen ins Theater geht, konnte das Erlebnis Schnitzlers
nicht nacherleben und mußte so von den formell nur nichtssagenden
Naturalismen abgestoßen werden.
Nichts anderes ist die Ursache bieser über fast ganz Deutsch¬
land gegangenen Hetze derer, die nicht alle werden, gegen Schnitzler
Aber es muß auch gesagt werden: diejenigen, die Schnitzler zur
öffentlichen Preisgabe dieses sexualen Geheimnisses seines Innen¬
lebens veranlaßten, haben ihm, weiß Gott, keinen ehrlichen Dienst
geleistet
*
Die naive Masse hat mehr Kunsiverständnis, als man im
allgemeinen annimmt, sie weiß, däß der Kunst als einziger
Spiegel die Sittengröße des Geschlechtes bleibt, das sie schuf. Die
große moralische Entrüstung, die gewisse Sittenwächter in diesem
Prozeß vom Stapel ließen, mag Freunde des Dichters schmerzen
aber gerade sie ist ein gutes Zeichen für die sittliche Kraft unseres
niedergeschlagenen Volkes, dem der Welt gegenüber nur noch eine
einzige Möglichkeit geblieben ist, sich durchzusetzen: nämlich die
sittliche Größe.
Lord Curzon.
Der Führer der antifranzösischen Politik Englands,
In der „Revue de France“ zeichnet J. Augustin Leger ein
Porträt des englischen Staatsmannes Lord Curzon, der als einer
der Führer der franzosenfeindlichen Politik Englands, besonders
im nahen Orient, gilt. „Er stellt", so schreibt der französische
Biograph, „in hervorragender Weise jenen imperialistischen
Mystizismus dar, der aus patriotischem Stolz und hohem Pflicht¬
gefühl zusammengesetzt ist. Dieser imperialistische Mystizismus geht
in der Erfüllung dessen, was er als eine Notwendigkeit betrachtet
über alles hinweg, was ihm im Wege ist. Es heißt, daß Lord
Curzon seine Ministerkollegen gegen ihren Willen mit sich mitreißt.
Viele Kreise in England klagen ihn dessen an. Er erwirkte in
November 1920 im Oberhaus, daß die großen Linien der
äußeren Politik nicht das ausschließliche Werk eines einzelnen,
ondern des gesamten Kabinetts seien. Das wahre Haupt
des Ministeriums des Aeußern ist der Premierminister, dem¬
gegenöber er nach einer Anklage der „Times
eine
allzu große Schmiegsamkeit an den Tag legen soll. Aber
Lord Curzon ist ein anerkannter Fachmann der Orientpolitik, er
war 1916 und 1917 Präsident einer interministeriellen Kommission,
die über das ganze einschlägige Gebiet zu verhandeln und zu
dirigieren hatte, und so trägt die ganze einschlägige Politik im
Orient, die sich gegen die Franzosen zu richten pflegt, die Spuren
seines Geistes.
In England hat Lord Curzon nicht nur die radikalen
Gruppen gegen sich, da sie ihn als systematischen, erbittertsten
Feind Sowjetrußlands betrachten. Die große Masse der Steuer¬
zahler sieht in ihm den Mann, der die Schuld daran trägt, daß
die Steuergelder in den Sandwüsten Mesopotamiens versickern.
Man hält ihm vor, daß er auf der ganzen Linie, überall, wo er
eingriff, Fiasko gemacht habe. Die kleinen Republiken des Kaukasus,
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die er zwischen den Russen und Türken aufrichten wollte, blieben
nicht lange bestehen. Die hellenischen Armeen, die er zu stützen
versuchte, hielten gegen die kemalistischen Truppen nicht stand.
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Persien war kühn genug, die englische Protektion abzuschätteln
und ein Defensivbündnis mit Afghanistan abzuschließen, ohne daß
L
England es zu verhindern vermochte. In Indien löst die Propa¬
ganda zugunsten des Kalifats die Muselmanen von der langen
Abhängigkeit an England los. Man spricht in den englischen
eig
Besitzungen weit seltener vom britischen Reich, als von der Ge¬
meinschaft freier britischer Nationen. Das Idol der englischen
die
Staatskunst ist unter die Räder seines eigenen Wagens gefallen,
und dies alles wird Lord Curzon zum Vorwurf gemacht,
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wenigstens wird ihm vorgeworfen, daß er diese Bewegung in
einer Weise zu verhindern oder auch nur aufzuhalten verstand.
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Kurz, Lord Curzon versteht nicht die Aspirationen der Zeit,
in welcher er lebt. Selbst seine Kenntnisse über den Orient sindl zufr

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