II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 945

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Reigen
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Freitag

dustriellen und Kaufleuten, daß das Problem, wie die am
1. Januar 1922 einzustellenden Lebensmittelzuschüsse auf die
Verbraucher verteilt werden sollen, dadurch zu lösen sei, daß In¬
dustrie und Gewerbe den vollen Brotpreis für Arbeiter und An¬
gestellte ans Eigenem bezahlen, während die „vierzehn= bis sechzehn
jährigen Kinder selbst einen Erwerb ergreifen können“. Diese
Ansicht mag als volkswirtschaftlich=mathematische These sehr richtig
sein, vom sozialpolitischen Standpunkt klingt sie als nackte
Brutalität.
Zu dem Kapitel der Fehler, die geschehen sind, und die zu
den höchst beklagenswerten Ereignissen in Wien führten, gehören
natürlich auch die Unterlassungssünden der Entente. Die im April
versprochene Hilfsaktion des Völkerbundes für Oesterreich sank in
ein frühes Grab und nur der eine, minder kostspielige Teil des
Völkerbundprogramms, die Selbsthilfe, wurde gnädig den Oester¬
reichern zur schmerzvollen Durchführung überlassen. Dabei hätte
selbst ein kleiner Kredit, wenn er zu rechter Zeit eingetroffer
wäre, den beispiellosen Kronensturz der letzten Wochen leicht ver¬
hütet und die Unglücksquelle der vollkommenen Geldentwertung
verstopft, aus, der wie aus einer Büchse der Pandora Ver¬
zweiflungsausbrüche wie die letzte Teuerungsrevolte hervorbrechen.
Trotzdem wäre es durchaus verfehlt, in diesen Exzesser
einer wütenden Volksmenge, die vom Luxus der Schieber und
Ausländer aufs äußerste gereizt ist, die Sturmzeichen eines sich
in Wien zusammenballenden bolschewistischen Ungewitters zu er¬
blicken. Wohl ist mit Sicherheit zu erwarten, daß die Kom¬
munisten, mit unfehlbarer Witterung für die glänzende Konjunktur,
alles daransetzen werden, um, wie Bela Kun einmal schrieb,
„die sozialdemokratischen Führer nach rechts zu ohrfeigen und die
Massen nach links zu reißen.“ Ob aber ihre sanguinischen Hoff¬
nungen sich in Wien verwirklichen lassen, ist mehr als zweifelhaft.
Immerhin: Die Stunde ist furchtbar ernst und Oesterreich gleicht
mehr denn je einem hoffnungslos treibenden Wrack, das eine
seuergefährliche Ladung mit sich führt — die Verzweiflung
und auf dem überdies ein Teil der Mannschaft meutert.
Ein deutscher Itrafrichter über
die „Reigen“=Affäre.
Der gerichtete „Reigen“.
In dem in Berlin erscheinenden amtlichen Organ des Ver¬
bandes Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten „Der
geistige Arbeiter“, das, von Herbert Hirschberg herausgegeben, aus
gezeichnete Beiträge namhafter deutscher Schriftsteller und Schrift¬
stellerinnen enthält, veröffentlicht ein deutscher Strafrichter, Amts¬
gerichtsrat Fließ, die Eindrücke, die er während des „Reigen“=
Prozesses, der kürzlich in Berlin beendet wurde, empfangen hat,
und schreibt, daß die „Reigen“=Frage überhaupt keine Theaterfrage sei.
„Zweifellos ist der Künstlerernst Schnitzlers darüber erhaben, als
Pornograph angesprochen zu werden; es ist völlig falsch, dahin¬
zielende Behauptungen aufzustellen. Sein Ansehen ist unter seinen
Zeitgenossen so verwurzelt, daß jede Bühnenleitung, zumal ir
diefer Zeit, in der es kein nach idealen Gesichtspunkten arbeitendes
Theater mehr geben kann, ein jedes Bühnenwerk Schnitzlers
ohneweiters für das stets interessierte Publikum dieses Dichters
herausbringen würde.
Unzüchtige Aksichten können in diesem Fall einem ernsten
Theater ebensowenig nachgewiesen werden als gar dem Dichter
elbst. Deshalb war die Eröffnung des Hauptverfahrens ein ab¬
surder Fehler, der besser unterblieben wäre.
Der Reigen von Sachverständigen bewies denn auch, daß
die aufgewandten Mittel, die Streitfrage wirklich aufzuklären,
völlig untauglich waren. Was von den meisten Gutachtern ge¬
boten wurde, waren Schulweisheiten, die kaum den Kern der
Sache berührten, obendrein war ihr Auftreten ein unschöner
Zweikampf zwischen zwei Gruppen, von denen aber keine den
Schein der Uninteressiertheit zu wahren vermochte. Ich hatte das
Empfinden, daß — wie bei den alten Medizinmännern
der
Ka
HE
Mittagbiatt des Neuen Wiener Journals
Heroen der Kunst? Diese Tatsache allein führt das pedantische
Gruppierungswesen ad absurdum. Wenn Kunst, wie man
sagen
zu
beliebte, Befreiung wäre,

Erhebung zur
reinen Empfindung und dergleichen,
dann allerdings

könnten sich die dieser Art befreiten und erhobenen vielleicht mit
Recht die Domänenpächter des Kunstverständnisses dünken; das find
aber phrasenhafte Umschreibungen für dekadente individualistische
Neigungen: der sozialistisch Denkende braucht keine Befreiung,
keine Erhebung vom Alltag, gerade der Alltag ist Gottes freit
Natur, die man nur zu verstehen braucht, um sich ihrer zu freuen;
nur dem unzulänglichen Individualisten ist die Kunst Domizil der
Selbstbeweihräucherung, vermittels dem er seine Selbstsucht von der
ihn allerdings oft unangenehm widerstrebenden Natur zu befreien
sucht, vermittels deren er sich weißmacht, er sei ein Bevorzugter
vor den Banausen, die seines unzulänglichen Kunstverständnisses
nicht fähig sind. Jede noch so naive Stellung gegenüber der
Kunst ist unendlich viel besser als diese individualistische Selbst¬
beweihräucherung, die alles andere eher ist als Kunstverständnis;
deren Vertreter geradezu als die unkünstlerischsten Menschen be¬
zeichnet zu werden verdienen.
Aber, wird man entgegenhalten, die große Masse der
Künstler ist doch zweifellos selbst in diesem Sinne individualistisch,
ihre Werke atmen doch die gleiche Selbstbefreiung, die gleiche
Erhebung — vom Alltag. Selbstverständlich die große Masse
der künstlerisch Talentierten vermag sich genau so wenig zu höheren
Lebensauffassungen durchzuringen, als die Untalentierten; das
Talent macht ebensowenig die Bedeutung des Menschen aus
als die Gelehrtheit: erst der alles erfassende Intellekt mucht das
Genie. Erst wo sich das Kunstwerk völlig loslöst von der
Persönlichkeit des Schöpfers, wo es rein für sich wirkt, ist es
wirklich groß. Wenn Künstler dieser Größe in ihren Fermen die
nackteste Wahrhaftigkeit vor der Natur offenbaren, hat sich noch
nie jemand angeekelt gefühlt, man betrachte daraufhin das
Schaffen Cervantes, Shakespeares oder Mozarts, deren jedes
einzelne an Freiheit der Form nichts zu wünschen übrig ließ.
Soll mit diesen Artur Schnitzler auf eine Ebene gestellt
sein? Schnitzler ist ein Mensch, der, seit er schöpferisch hervor¬
trat, immer in innere Kämpfe gebunden war; Schnitzlersche Kunst¬
werke sind stets Erlebnisse innerer Konflikte, in diesem Sinne
individualistische Offenbarungen. Und man darf dem Dichter feine
Achtung dafür bezeugen, daß er seine Auseinandersetzung mit dem
sexuellen Problem, wie sie der Reigen darstellt, verständnisvoll
nur denen zugänglich machte, die sich für seine Persönlichkeit mehr
interessierten wie für seine Kunst, für seine persönlichen Freunde!
Der persönlich Interessierte schätzt solche Konfliktsäußerungen um
der Persönlichkeit willen. Ein großer Teil der Menge, die nichts
Näheres von Schnitzler, dem Menschen, weiß und lediglich um der
Kunst willen ins Theater geht, konnte das Erlebnis Schnitzleis
nicht nacherleben und mußte so von den formell nur nichtssagenden
Naturalismen abgestoßen werden.
Nichts anderes ist die Ursache bieser über fast ganz Deutsch¬
land gegangenen Hetze derer, die nicht alle werden, gegen Schnitzler.
Aber es muß auch gesagt werden: diejenigen, die Schnitzler zum
öffentlichen Preisgabe dieses sexualen Geheimnisses seines Innen¬
lebens veranlaßten, haben ihm, weiß Gott, keinen ehrlichen Dienst
geleistet
Die naive Masse hat mehr Kunsiverständuis, als man im
allgemeinen annimmt, sie weiß, daß der Kunst als einziger
Spiegel die Sittengröße des Geschlechtes bleibt, das sie schuf. Die
große moralische Entrüstung, die gewisse Sittenwächter in diesem
Prozeß vom Stapel ließen, mag Freunde des Dichters schmerzen
aber gerade sie ist ein gutes Zeichen für die sittliche Krast unseres
niedergeschlagenen Volkes, dem der Welt gegenüber nur noch eine
einzige Möglichkeit geblieben ist, sich durchzusetzen: nämlich die
sittliche Größe.
Lord Curzon.
Der Führer der antifranzösischen Politik Englands.
In der „Revue de France“ zeichnet J. Augustin Leger ein
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