II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 949

11
Reigen
box 18/2
Herr Kant aus Königsberg, der zwar schon lange tot ist, aber
immer noch in gewissen Kreisen einiges Ansehen genießt, so daß
man sich an seiner Seite eigentlich doch nicht zu schämen braucht.
Herr Dr. Witkowsky hat wohl auch nicht gerade den ganzen Kant
verwerfen wollen, als aber Herr Regierungsrat Brauner sich auf
des Königsbergers „kategorischen Imperativ“ berief, vollzog der
moderne Sachverständige die Feststellung, daß sein Widerpart schon
damit seine Rückständigkeit und den Mangel an Befugnis, ein zeit¬
gemäßes Urteil in der Prozeßsache abzugeben, erwiesen habe.
Nun wäre es von hohem Werte zu wissen, von woher der Sach¬
verständige Dr. Witkowsky seine Kenntnisse auf dem Gebiete der
Ethik bezogen hat, oder von ihm unmittelbar zu vernehmen, in
welchen Leyren die moderne Ethik bestehe. Solche Leute, die
sich
fachwissenschaftlich mit der Moraltheorie befassen, befinden sich
nämlich in Kenntnis einer Tatsache, die zu dem Ausspruche des
Herrn Sachverständigen im vollsten Gegensatze steht. Sie wissen,
daß die ethische Forschung allerneuestens genau dort gelandet ist,
wo schon Kant das Wahrzeichen seiner Entdeckertat aufsteckte: beim
Rätsel des Sollens.
Mit dem Schopenhauerschen Mitleid und der Nietzschischen Mit¬
leidslosigkeit auf der einen und Vornehmheit auf der anderen Seite
ist man ebensowenig zu einer haltbaren Morallehre gelangt wie
mit der Theorie der Sanktionen, der Werttheorie, oder gar mit der
neuesten Errungenschaft von Professor Freud, der aus dem Lust¬
gefühl und dem Wiederholungszwang eine besonders kühne Spe¬
kulation aufbaute, um endlich das Bedürfnis der Modernen nach
einem schillernden Nichts von psychologischer Ethik zu befriedigen.
über den Utilitarismus und die soziologische Ethik braucht man
schon gar nicht mehr zu reden, sie sind durch die über die Gegen¬
wart hereingebrochene Katastrophe der Moral einfach begraben
worden. Weder ist der Altruismus dem zivilisierten Menschen an¬
gezüchtet, noch der Egoismus weggezüchtet worden, weder hat die
Rücksicht auf Staat und Gesellschaft dem Individualismus stand¬
gehalten, noch zeigt sich in der Gesellschaftsordnung irgendein
Mittel, durch das die Anarchie wieder beseitigt werden könnte, es
sei denn durch Gewalt und Strafe: das Ergebnis aller ethischen
Systeme, die bisher gelehrt und angewendet wurden, ist einfach
das Chaos, in dem wir uns nunmehr befinden und hilflos umher¬
treiben. Wohin sich auch auf dem Trümmerfeld der Ethik das
Auge wenden mag, es weist keinen festen Punkt auf, außer eben
jenem Sollen, dem Kant die Bezeichnung „kategorischer Imperativ“
verliehen hat.
Schon ehe der praktische Bankerott aller Moral eintrat, hat
Georg Simmel, der immerhin als hinreichend modern gelten dürfte,
die Grundtatsache, das Grundrätsel des ethischen Problems in den
„Ich gestehe, daß der seelische Vorgang, in dem wir unser ganzes
Wollen sich oft genug gegen ein Sollen sträuben fühlen, das
dennoch selbst irgendwie ein Wollen sein muß, weil wir ihm, ohne
daß jener Widerstand sich verminderte, schließlich folgen: ich gestehe,
daß ich hierfür keine anschauliche, ausreichende Deutung kenne. —
Das war von jeher die Schwierigkeit aller Ethik und Wertlehre,
daß innorhalb des Erweislichen und Wirklichen das sittlich Rot¬
wendige und Wertvolle nicht abzuleiten ist, so daß fast jede
Metaphysik sich zu einem Hineingeheimnissen einos „guten Prinzips“
in die Wirklichkeit genötigt sieht.
Man mag die Sittlichkeit noch so naturalistisch und empirisch
umgrenzen, jeder tiefere Denker gelangt ihr gegenüber an eine
Schranke, jenseits der das Reich der Religion, der Metaphysik oder
des Skeptizismus gelegen ist.“
Diese Sätze Georg Simmels sind zur Kennzeichnung aller modernen
Ethik vollkommen ausreichend. Sie steht ratlos vor dem ethischen
Grundphänomen, dem Sollen, dessen weitere Auswirkungen als
Sanktionen oder als Gewissen den Denkern ebenso unlörbare
Rätsel aufgeben. Und jenes Gründphänomen hat eben Kant
entdeckt, der vermöge dieser Tat immer noch an der Spitze aller
Moralphilosöphen steht. Seine spekulative Erklärung des Phäno¬
mens mag anfechtbar oder unhaltbar sein, sie tut nichts zur Sache.
Es bleibt in jedem Falle die Notwendigkeit bestehen, daß auch die
Ethik, um über den Zusammenbruch aller andern Systeme und
Theorien hinwegzukommen, dem Rufe: Zurück zu Kant! Folge
leistet. Nur von der Entdeckung Känts aus läßt sich der Wieder¬
aufbau der Ethik beginnen. Kant bleibt auch nach dem Reigen¬
prozesse noch der modernste aller Ethiker, Herr Dr. Witkowsky aber
sitzt auf einem Trümmerhaufen verälteter Unzülänglichkeiten.
Dr. Albert Ritter.
690