11.
Reigen
box 18/3
DER ZUSCHAUER
DRAMATURGISCHE BLXTTER
DES
KLEINEN THEATERS
ZU LEIPZIG
II. Jahrgang.
Nr. 2.
REIGEN.
Ein „Vexierspiel“ nannte Alfred Kerr einmal Schnitzlers
Reigen In der Tat: der eigentliche Sinn dieser scheinbar halb¬
sorglos, halb zynisch hingeworfenen Bildchen ist immer noch nicht
oder nur vereinzelt gespürt worden, obwohl dieses erfolgreich
verbotene Buch jeder längst gelesen hatte. Ist es wirklich nicht
mehr als eine „Komödie des Geschlechtstriebs“? Das diebische
Vergnügen, das nicht nur so mancher wifbegierige Jüngling bei
dieser Lektüre empfand, darf sicherlich nicht als Beweis gelten.
Denn dies ist eines von den Büchern, die nicht nur im Augenblick
der Aufnahme erschüttern (in diesem Fall am h: sten das
Zwerchfell): es wirkt nach. Diese spätere dar „nde Wirkung
aber ist tiefer und ernster. Wehmut fast — will uns nach den
Exzessen der Heiterkeit beschleichen. Ein wenig beschämend ist
es für den Mitmenschen, diese fromm und bieder schwindelnden
Männlein und Weiblein einander noch in der menschlichsten
Situation an der Nase herumführen zu sehen. Wer ist da noch
Betrüger? Wer der Betrogene? Es ist schwer zu sagen. Aber
ein wenig nachdenklich stimmt es doch, daß inmitten der nicht
gut zu leugnenden allgemeinen Vergänglichkeit das Natürlichste
der Kreatur am schnellsten, so schnell vergeht!
Aber vielleicht stimmt es gar nicht! Vielleicht ist diesel
Schnitzler doch ein heimlicher Erotomane, der die Tatsachen be¬
wußt verfälscht. Dann wäre ja auch diese Lösung seiner Vexier¬
bilder hinfällig! — Nein: selbst wer den andern Schnitzler, den
graziösen skeptischen Melancholiker nicht kennt, dem man oft
genug die Dekadenz seiner Weltansicht und -Gestaltung vorgehalten
hat, täte gut, sich den Hintergrund aller dieser den Reigen schließen¬
den Skizzen anzusehen. Dieser Hintergrund aber heißt Wien.
Was auch immer inzwischen aus dieser Stadt geworden sein mag,
ob es denkbar ist, daß zwischen den unterernährten abgekühlten
Reigen
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DER ZUSCHAUER
DRAMATURGISCHE BLXTTER
DES
KLEINEN THEATERS
ZU LEIPZIG
II. Jahrgang.
Nr. 2.
REIGEN.
Ein „Vexierspiel“ nannte Alfred Kerr einmal Schnitzlers
Reigen In der Tat: der eigentliche Sinn dieser scheinbar halb¬
sorglos, halb zynisch hingeworfenen Bildchen ist immer noch nicht
oder nur vereinzelt gespürt worden, obwohl dieses erfolgreich
verbotene Buch jeder längst gelesen hatte. Ist es wirklich nicht
mehr als eine „Komödie des Geschlechtstriebs“? Das diebische
Vergnügen, das nicht nur so mancher wifbegierige Jüngling bei
dieser Lektüre empfand, darf sicherlich nicht als Beweis gelten.
Denn dies ist eines von den Büchern, die nicht nur im Augenblick
der Aufnahme erschüttern (in diesem Fall am h: sten das
Zwerchfell): es wirkt nach. Diese spätere dar „nde Wirkung
aber ist tiefer und ernster. Wehmut fast — will uns nach den
Exzessen der Heiterkeit beschleichen. Ein wenig beschämend ist
es für den Mitmenschen, diese fromm und bieder schwindelnden
Männlein und Weiblein einander noch in der menschlichsten
Situation an der Nase herumführen zu sehen. Wer ist da noch
Betrüger? Wer der Betrogene? Es ist schwer zu sagen. Aber
ein wenig nachdenklich stimmt es doch, daß inmitten der nicht
gut zu leugnenden allgemeinen Vergänglichkeit das Natürlichste
der Kreatur am schnellsten, so schnell vergeht!
Aber vielleicht stimmt es gar nicht! Vielleicht ist diesel
Schnitzler doch ein heimlicher Erotomane, der die Tatsachen be¬
wußt verfälscht. Dann wäre ja auch diese Lösung seiner Vexier¬
bilder hinfällig! — Nein: selbst wer den andern Schnitzler, den
graziösen skeptischen Melancholiker nicht kennt, dem man oft
genug die Dekadenz seiner Weltansicht und -Gestaltung vorgehalten
hat, täte gut, sich den Hintergrund aller dieser den Reigen schließen¬
den Skizzen anzusehen. Dieser Hintergrund aber heißt Wien.
Was auch immer inzwischen aus dieser Stadt geworden sein mag,
ob es denkbar ist, daß zwischen den unterernährten abgekühlten