11. Reigen
2 21
ng
21
nd „Verrotterung“
Audiatur et altera pars.
christleitung der „Hannoverschen
edensten Seiten an sie ergehenden
euesten recht unerquicklichen Vor¬
s, die allerdings in bedenklicher
Leben hinüberspielen, indem sie
lung zu nehmen. Wenn ich nun
emeinen und zu den Reigen¬
Bort ergreife, so fürchte ich aller¬
Enttäuschung zu bereiten. Nicht
de, als Verteidiger der „Reigen¬
treten. Diese Aufführungen sind
vom religiösen und sittlichen
itischliterarischen. Es bleibt ganz
solchen literarischen Meriten wie
rdrei bis vier Jahrzehnten ein
eil bekundendes Buch über das
wir hier in Hannover als be¬
lernten, dessen Gattin, Paula
o doch sehr wohl in die Lage
weiblichen Rollen des „Reigen“
Mann dazu kommen kann, eine
u brechen, das ein jeder, der nur
ig wertlos erklären muß. Es ist
iftsteller wie Schnitzler, der doch
pn entschiedenem dramatischen
ben hat, so von allen guten
n solches Machwerk hinzusudeln.
n und dieses durch Kitzeln der
enge zu erlangen, kann unmög¬
führt werden, denn Schnitzler
d vielgesuchter Arzt gleich hohe
inreden wollen, in diesem Stücke
Menschheit ernstlich in das Ge¬
box 18/3
wissen reden wolle, wie Ibsen das als surchtbarer Mahnrufer in den
„Gespenstern“ tut, ist barer Unsinn, denn Unzucht und Sittenlosigkeit
kreien uns im „Reigen“ nicht nur unverhüllt, sondern mit frechem
Lachen entgegen und sordern in jedem der zehn Bilder geradezu
dazu heraus, sich ihnen in die Arme zu wersen, denn jede der auf¬
tretenden Personen trägt es deutlich an der Stirn geschrieben, „daß
hr ganz kannibalisch wohl ist als wie fünfhundert Säuen.“ Die
Aufführung eines solchen Stückes ist unter allen Umständen bedauer¬
lich; aber gerade weil uns die Gemeinheit so nackt entgegentritt, so
wirkt dieses Stück nach meinem Dafürhalten weit weniger gefährlich
als so manches andere unsittliche moderne Gesellschaftsstück, wozu ich
besonders die sehr schlüpfrigen jüngsten Kinder der Sudermannschen
Muse rechne, die mit ihrem scheinbar graziösen Salongeschwätz dem
ahnungslosen Zuhörer und noch mehr der unschuldigen Zuhörerin
ein weit gefährlicheres Gift unvermerkt einflößen. Gerade die Ver¬
borgenheit unter schillernder Oberfläche schützt aber diese Machwerke
vor der Zensur und in der Regel auch vor Theaterskandalen, die
übrigens unter allen Umständen ein sehr fragwürdiges Mittel zur
Erreichung selbst des besten Zieles sind.
Das wirksamste Mittel zur Unschädlichmachung solcher Stücke wäre
nach meiner Meinung, wenn die gesamte Presse darin
olidarisch vorginge, daß sie sowohl einer Anzeige der
Aufführung eines solchen Stückes sowie einen vom Theaterbureau ge¬
sandten „Waschzettel“ die Aufnahme verweigerte, als auch die Auf¬
führung selbst unerwähnt, „unbesprochen“ ließe. Von solcher Ueber¬
zeugung ausgehend hatten der Kritiker des „Hannoverschen An¬
zeigers“ Dr. Paul Madsack, und ich uns dahin geeinigt, von einer
Besprechung der „Reigen“=Aufführung Abstand zu nehmen. Aber es
half leider nichts, da wir allein blieben, und es ja leider bekannte
Tatsache ist, daß für ein Buch, für ein Theaterstück nicht wirksamer
Reklame gemacht werden kann, als wenn recht eindringlich vor dem
obszönen Inhalte gewarnt wird. „Aha, das ist etwas besonders
Feines, Pikantes, das müssen wir kennen lernen,“ sagt dann die
große Menge, die sich sonst um Buch und Stück gar nicht gekümmert
haben würde, und stürmt flugs Buchläden und Theater. Das ist so
nicht etwa erst seit der Revolution, das ist immer so gewesen, ent¬
chuldigt aber in diesem besonderen „Reigen“=Fallé nicht etwa die
Direktion des Residenztheaters, sondern versetzt sie im Gegenteil erst
recht in den Anklagezustand, weil sie natürlich aus eigener Erfahrung
wußte, wie die große Menge denkt.
Aber leider ist die Anklagebank des öffentlichen Fo¬
rums allein mit der Direktion des Residenz¬
theaters
zu dünn besetzt: neben sie gehört das große
Publikum.
Es muß der Direktion des Deutschen Theaters und ganz besonders
der des Residenztheaters zum Ruhme nachgesagt werden, daß
sie künstlerische Taten rüstete. Insbesondere soll es der Direktion
des Residenztheaters nie vergessen werden, daß sie mit der Auf¬
ührung von „Don Juan und Faust“ dem genialsten Dramatiker, den
Niedersachsen hervorgebracht hat, Dietrich Christian Grabbe,
die Bühne zu gewinnen trachtete. Aber der Versuch stieß leider
ebenso wie alle anderen Versuche, mit künstlerischen Taten aufzu¬
warten, auf die völlige Verständnis= und Interesselosigkeit, auf die
Indolenz des Publikums. An allen solchen Abenden zeigte das
Haus in der Marktstraße gähnende Leere. Dafür aber kann nun
nicht etwa der Umstand geltend gemacht werden, daß die Leute kein
Geld zum Theaterbesuch hätten. Man braucht sich ja nur einmal in
der Welt, d. h. im heutigen Deutschland umzusehen, um zu dem
Glauben zu kommen, daß man sich in einem großen Narrenhause be¬
indet: o groß ist allerorten der Vergnügungswahn. Gerade aber
diejenigen, die sonst überall zu sehen und zu finden sind, wo man sich
nicht langweilt, sah und fand man in den Theatern nicht, wenn
„nichts los war", d. h. wenn ernste Stücke gegeben wurden.
Wenn nun aber eine Theaterdirektion buchmäßig innerhalb
veniger Monate ein Desizit von mehr als 100000 M nachweisen
kann, so kann man ihr nicht verargen, wenn sie nach Mitteln greift,
ich über Wasser zu halten, denn der Ertrinkende greift auch nach
einem Strohhalme. Ich möchte mal den Vogel sehen, der, vor die
Wahl des bekannten Sprichworts gestellt, nicht lieber fressen als
terben wollte. So griff denn die Direktion des Residenztheaters,
übrigens schon vor längerer Zeit, so daß nicht die Gebrüder Rotter
ür die Aufführung haftbar zu machen sind, nach dem „Reigen" und
zuletzt nach der „Verrotterung“, auf welch' letztere ich noch besonders
zu sprechen komme.
So liegen die Dinge, die man kennen muß, um zu einem gerechten
Urteil zu kommen. Der allgemeine moralische Tiesstand, die wachsende
Verlotterung der Sitten bei der Jugend, die allerdings eine Begleit¬
und Folgeerscheinung von Krieg und Revolution ist, der Kampf, der
von gewisser Seite gegen die Religion geführt wird, und die
wachsende Gleichgültigkeit gerade der „gebildeten“ Kreise gegenüber
allen kirchlichen Bestrebungen tragen in erster Linie die Schuld,
daß ein solches Sumpfgewächs, wie es, von einzelnen rühmlichen Er¬
cheinungen abgesehen, unsere ganze derzeitige Literatur darstellt, ge¬
deihen und
— hoffentlich nur vorübergehend! — sogar reiche und
üppige Früchte zeitigen kann.
E. R.
2 21
ng
21
nd „Verrotterung“
Audiatur et altera pars.
christleitung der „Hannoverschen
edensten Seiten an sie ergehenden
euesten recht unerquicklichen Vor¬
s, die allerdings in bedenklicher
Leben hinüberspielen, indem sie
lung zu nehmen. Wenn ich nun
emeinen und zu den Reigen¬
Bort ergreife, so fürchte ich aller¬
Enttäuschung zu bereiten. Nicht
de, als Verteidiger der „Reigen¬
treten. Diese Aufführungen sind
vom religiösen und sittlichen
itischliterarischen. Es bleibt ganz
solchen literarischen Meriten wie
rdrei bis vier Jahrzehnten ein
eil bekundendes Buch über das
wir hier in Hannover als be¬
lernten, dessen Gattin, Paula
o doch sehr wohl in die Lage
weiblichen Rollen des „Reigen“
Mann dazu kommen kann, eine
u brechen, das ein jeder, der nur
ig wertlos erklären muß. Es ist
iftsteller wie Schnitzler, der doch
pn entschiedenem dramatischen
ben hat, so von allen guten
n solches Machwerk hinzusudeln.
n und dieses durch Kitzeln der
enge zu erlangen, kann unmög¬
führt werden, denn Schnitzler
d vielgesuchter Arzt gleich hohe
inreden wollen, in diesem Stücke
Menschheit ernstlich in das Ge¬
box 18/3
wissen reden wolle, wie Ibsen das als surchtbarer Mahnrufer in den
„Gespenstern“ tut, ist barer Unsinn, denn Unzucht und Sittenlosigkeit
kreien uns im „Reigen“ nicht nur unverhüllt, sondern mit frechem
Lachen entgegen und sordern in jedem der zehn Bilder geradezu
dazu heraus, sich ihnen in die Arme zu wersen, denn jede der auf¬
tretenden Personen trägt es deutlich an der Stirn geschrieben, „daß
hr ganz kannibalisch wohl ist als wie fünfhundert Säuen.“ Die
Aufführung eines solchen Stückes ist unter allen Umständen bedauer¬
lich; aber gerade weil uns die Gemeinheit so nackt entgegentritt, so
wirkt dieses Stück nach meinem Dafürhalten weit weniger gefährlich
als so manches andere unsittliche moderne Gesellschaftsstück, wozu ich
besonders die sehr schlüpfrigen jüngsten Kinder der Sudermannschen
Muse rechne, die mit ihrem scheinbar graziösen Salongeschwätz dem
ahnungslosen Zuhörer und noch mehr der unschuldigen Zuhörerin
ein weit gefährlicheres Gift unvermerkt einflößen. Gerade die Ver¬
borgenheit unter schillernder Oberfläche schützt aber diese Machwerke
vor der Zensur und in der Regel auch vor Theaterskandalen, die
übrigens unter allen Umständen ein sehr fragwürdiges Mittel zur
Erreichung selbst des besten Zieles sind.
Das wirksamste Mittel zur Unschädlichmachung solcher Stücke wäre
nach meiner Meinung, wenn die gesamte Presse darin
olidarisch vorginge, daß sie sowohl einer Anzeige der
Aufführung eines solchen Stückes sowie einen vom Theaterbureau ge¬
sandten „Waschzettel“ die Aufnahme verweigerte, als auch die Auf¬
führung selbst unerwähnt, „unbesprochen“ ließe. Von solcher Ueber¬
zeugung ausgehend hatten der Kritiker des „Hannoverschen An¬
zeigers“ Dr. Paul Madsack, und ich uns dahin geeinigt, von einer
Besprechung der „Reigen“=Aufführung Abstand zu nehmen. Aber es
half leider nichts, da wir allein blieben, und es ja leider bekannte
Tatsache ist, daß für ein Buch, für ein Theaterstück nicht wirksamer
Reklame gemacht werden kann, als wenn recht eindringlich vor dem
obszönen Inhalte gewarnt wird. „Aha, das ist etwas besonders
Feines, Pikantes, das müssen wir kennen lernen,“ sagt dann die
große Menge, die sich sonst um Buch und Stück gar nicht gekümmert
haben würde, und stürmt flugs Buchläden und Theater. Das ist so
nicht etwa erst seit der Revolution, das ist immer so gewesen, ent¬
chuldigt aber in diesem besonderen „Reigen“=Fallé nicht etwa die
Direktion des Residenztheaters, sondern versetzt sie im Gegenteil erst
recht in den Anklagezustand, weil sie natürlich aus eigener Erfahrung
wußte, wie die große Menge denkt.
Aber leider ist die Anklagebank des öffentlichen Fo¬
rums allein mit der Direktion des Residenz¬
theaters
zu dünn besetzt: neben sie gehört das große
Publikum.
Es muß der Direktion des Deutschen Theaters und ganz besonders
der des Residenztheaters zum Ruhme nachgesagt werden, daß
sie künstlerische Taten rüstete. Insbesondere soll es der Direktion
des Residenztheaters nie vergessen werden, daß sie mit der Auf¬
ührung von „Don Juan und Faust“ dem genialsten Dramatiker, den
Niedersachsen hervorgebracht hat, Dietrich Christian Grabbe,
die Bühne zu gewinnen trachtete. Aber der Versuch stieß leider
ebenso wie alle anderen Versuche, mit künstlerischen Taten aufzu¬
warten, auf die völlige Verständnis= und Interesselosigkeit, auf die
Indolenz des Publikums. An allen solchen Abenden zeigte das
Haus in der Marktstraße gähnende Leere. Dafür aber kann nun
nicht etwa der Umstand geltend gemacht werden, daß die Leute kein
Geld zum Theaterbesuch hätten. Man braucht sich ja nur einmal in
der Welt, d. h. im heutigen Deutschland umzusehen, um zu dem
Glauben zu kommen, daß man sich in einem großen Narrenhause be¬
indet: o groß ist allerorten der Vergnügungswahn. Gerade aber
diejenigen, die sonst überall zu sehen und zu finden sind, wo man sich
nicht langweilt, sah und fand man in den Theatern nicht, wenn
„nichts los war", d. h. wenn ernste Stücke gegeben wurden.
Wenn nun aber eine Theaterdirektion buchmäßig innerhalb
veniger Monate ein Desizit von mehr als 100000 M nachweisen
kann, so kann man ihr nicht verargen, wenn sie nach Mitteln greift,
ich über Wasser zu halten, denn der Ertrinkende greift auch nach
einem Strohhalme. Ich möchte mal den Vogel sehen, der, vor die
Wahl des bekannten Sprichworts gestellt, nicht lieber fressen als
terben wollte. So griff denn die Direktion des Residenztheaters,
übrigens schon vor längerer Zeit, so daß nicht die Gebrüder Rotter
ür die Aufführung haftbar zu machen sind, nach dem „Reigen" und
zuletzt nach der „Verrotterung“, auf welch' letztere ich noch besonders
zu sprechen komme.
So liegen die Dinge, die man kennen muß, um zu einem gerechten
Urteil zu kommen. Der allgemeine moralische Tiesstand, die wachsende
Verlotterung der Sitten bei der Jugend, die allerdings eine Begleit¬
und Folgeerscheinung von Krieg und Revolution ist, der Kampf, der
von gewisser Seite gegen die Religion geführt wird, und die
wachsende Gleichgültigkeit gerade der „gebildeten“ Kreise gegenüber
allen kirchlichen Bestrebungen tragen in erster Linie die Schuld,
daß ein solches Sumpfgewächs, wie es, von einzelnen rühmlichen Er¬
cheinungen abgesehen, unsere ganze derzeitige Literatur darstellt, ge¬
deihen und
— hoffentlich nur vorübergehend! — sogar reiche und
üppige Früchte zeitigen kann.
E. R.