11. Reigen
ein andrer anders empfindet oder spricht als sie
e ihn daran hindern und ihn zwingen möchten,
Denk= und Redeweise der Philister arzupassen
freuzritter witterten Morgenluft. Ein Adressen¬
wurde inszeniert. Unterschrieben waren die Be¬
sigen der Aergernisnahme an der Komödie und
ufführung von willfährigen Hämmeln reaktlo¬
— das ergab sich bei
Schutz= und Trutzbünde, die
weder das Stück gelesen
—
ugenvernehmung
se Aufführung gesehen hatten. Unwilltürlich er¬
man sich beim Lesen dieses verdienstlichen Buches
zolfgang Heine des Biedermannes, der ein Pär¬
Stadtpark in einer Sommernacht belauscht und
hiert und in seiner Anzeige angibt: „Als ich mich
kt hatte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, das
ch erforderliche öffentliche Aergernis zu nehmen
ing zurück, traf die Genannten bei der gleicher
ftigung, nahm das öffentliche Aergernis und er¬
danach Anzeige.“ Kommt noch der Aristophanes
hier findet er.
frer Zeit den Spiegel liefert
dialogisiert, nur die künstlerische Concentration
eischend, die große Sittenkomödie der Deutscher
Jahrhunderts. Ja, es ist gut, daß dieser Prozef
t wurde. Und gut, wie er geführt worden ist.
äre es auch nur um dieses Dokumentes willen
viereinhalbhundert Seiten voll sind von Humor,
Satire, angesüllt mit Gestalten und Er
ngen, die die Phantasie eines Daumier zu be¬
vermöchten. „Der Viberpelz“, „Kater Lampe
„Der Kampf um den Reigen“, das sind nun die
stärksten deutschen Sitten= und politischen
dien.
keinem irrte das Gericht. Schnitzler schrieb den
n“ vor 23 Jahren nicht, um abzuschrecken und zu
Ein Kunstwerk hat keine Tendenz, auch keine
sche. Es ist ein Lebensreigen. So gesehen
andrer Künstler einen Totentanz macht
offenbar aus dem tiefen Bewußtsein, daß die
ben, die sich ein Leben lang um die Abgrenzung
besonderen Ichs mühen, plötzlich gleich und gleick
sind im Tode und im Geschlechtstrieb. Eine gar
fröhliche Wissenschaft spricht aus diesen Szenen.
Elegiker Schnitzler ist bei seinem Namensvetter
enhauer in die Schule gegangen, der erkannte, daß
Begierde des Geschlechts einen von jeder ander:
erschiedenen Charakter trage: sie ist nicht nur die
e, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als
Das Opfer des Individuums an die Gat¬
idern“.
auch dies erkannte Schopen¬
äßt den Opfernden —
in eigen¬
in seinen tiefen Zusammenhängen
r (auch scelischer) Erschöpfung zurück. Ja, der
er Schopenhauer verzeichnet hier, daß das ehern
gesetz gewissen Arten von Lebewesen den Tod
box 18/3
ganz nahe hinter die höchste Bejahung des Willens zum
Im
Dasein, dicht hinter die Triebentladung gelegt hat.
weiten Band seines Hauptwerkes steht zu lesen: „Den
illem entspricht die wichtige Rolle, welche das Geschlechts¬
verhältnis in der Menschenwelt spielt, als wo es eigent¬
lich der unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Trei¬
ens ist und trotz allen ihm übergeworfenen Schleiern
iberall hervorguckt. Es ist die Ursache des Krieges und
der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes
und . .. der allezeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur
weil ihm der tiefste Ernst zugrunde liegt. Das aber
st das Pikante und der Spaß der Welt, daß die Haupt¬
angelegenheit aller Menschen heimlich betrieben und
ostensibel möglichst ignoriert wird. In der Tat aber
sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als den eigent¬
lichen und erblichen Herrn der Welt aus eigener Macht¬
ollkommenheit auf den angestammten Thron setzen und
von dort herab mit höhnenden Blicken der Anstalter
achen, die man getroffen hat, sie zu bändigen ... wo¬
nöglich ganz verdeckt zu halten oder doch so zu be¬
meistern, daß sie nur als eine ganz untergeordnete
Nebenangelegenheit des Lebens zum Vorschein komme.
Diese Abhängigkeit fühlt schmerzlich der Denker, der
die „Freiheit“ schließlich weit in das Metaphysische ver¬
setzen muß. Aber er findet auch den tiesen Humor dieser
bhängigkeit geprägt in dem Spruch über der Tür eines
Lupanars in Pompeji: „Hier wohnt die Glückseligkeit.
Diese Inschrift war „für den Hineingehenden. naiv, für
en Herauskommenden ironisch, und an sich selbst
humoristisch“
Auch über Schnitzlers „Reigen“ steht im tieferen
Nu#
Sinn jene Inschrift: „Hic habitat felicitas.
daß der Humor bei der Betrachtung der Hinein= uni
Hinausgehenden durch einen durchaus melancholischen
Grundzug bezeichnet ist. Der Reichtum der Gestalten,
der Rhythmus, in dem sie sich anziehen und abstoßen,
die seltene Grazie des Dialogs, die Sehnsucht aller nach
dem tieferen Erlebnis, das tragische Versinken aus dem
roten Rausch in graue Baualität, und wie leiser Humor
— all das macht den Reigen
sich über die Elegie breitet
zu einer in ihrer Art vollendeten Dichtung.
Die Abhängigkeit vom Triebhaften, in der Dirn
völlig naiv und unbewußt, läßt die Aermste und Letzte
als die Wahrhaftigste sich enthüllen. Ein allen gemein¬
ames Reigenband macht auch die Triebverkleidung aus
Schon
Jeder balancirt da seine Lebenslüge vor sich her.
der junge Herr braucht Masken seines Gefühls. Diese
eelische Verkleidung wechselt höchst ergötzlich, so sehr sie
sich gleich bleibt bei der jungen Frau, bei dem Ehemann
ei dem süßen Mädel, dem Dichter, der Schauspielerin
dem Grafen. Und immer bleibt obenauf jene allen
Werken Schnitzlers eigene Schwermut, die selbst im
lustigen Abschiedssouper vernehmbar ist. Nein, es gibt
da nichts zu schauen für Voyeurs. Wer sich auf die
Reklame der sittlich entrüsteten Aergernisteilnehmer ver¬
läßt, kommt ebensowenig auf seine Kosten, wie der kürz¬
lich im „Simplizissimus“ von Gulbransson genial ge¬
zeichnete Spießer, der, gierig die Großstadtluft schnap¬
pend, einen Schutzmann befragt: „Hamm Se hier nich
ißchen was Lasterhaftes, aber nich zu stark, daß es meine
Frau voch sehn kann.“ Die leere Bühne in „Fräulein
Julie“ von Strindberg, die Szene, in der Hebbels
— um
Judith dem Holofernes anheimfällt, sind
nur zwei klassische Beispiele anzuführen — sehr viel
drastischer, als einer der Reigen=Dialoge. Wollte einer
einwenden. in der Tragödie sei von wegen des Straf¬
vollzuges der Gerechtigkeit erlaubt, was sonst verboten
sei, so ist darauf zu erwidern, daß die leise Tragik
dieser Szenen uns menschlich um so viel näher liegt.
Nicht zu leugnen ist: auch in der durchaus decenten
Aufführung im Residenztheater vergröbert sich unver¬
meidlich manches, was, in der Dichtung von empfind¬
ichster Feinheit, schon durch die Verkörperung auf der
Bühne irgendwie dem Realismus ausgesetzt ist. Die
Gefahr für die Dichtung, die Gefahr der beflissenen
Verharmlosung ist nicht gering. Was ein Reigen
kann nur zu leicht eine Anekdotenreihe werden im
Rampenlicht. Ich kann mir in der Art eines Toten¬
tanzes den Reigen ringsum von der Dirne bis zur
Dirne rhythmisch stärker betont, szenisch enger, fugenlos
aneinander geschlossen denken. Das ist aber nur mög¬
ich bei unbedingter Stilisierung. Die Musik, die die
Sittlichkeitsnachtwächter in Berln so erschröcklich un¬
eusch befanden, vermag diesen rhythmischen Zusammen¬
ang, diese spielerische Einheit nicht zu schaffen. Auf
mich wirkte sie eintönig in all ihrer aktenmäßig beschei¬
nigten Wohlanständigkeit.
Dagegen wurden die einzelnen Szenen für sich gut,
zum Teil hervorragend gespielt. Schauspielerisch das
Feinste und zugleich Stärkste gab Gustav Heppner
n der Szene mit der Schauspielerin, die in Jutta
Versen eine gleichwertige Vertreterin fand. In den
Szenen dieser beiden Künstler herrschte die Satire und
ein teils sehr feiner, teils entzückend travestierender
Humor. Dennoch blieb die leise Melancholie fühlbgr.
Man hatte wenn auch lächelndes Mitleid mit diesem
früh vergreisenden Grafen, sah, wie auch hinter der
großen Pose der Schausvielerin die Angst vor dem
Altern lauerte. — Maria Holmbetont den angeborenen
Charakter, das Naive der Dirne sehr glücklich. Das
Wienerische treffen Hugo Claus (Soldat) und das
üße Mädel. Poldi Müller (die seit ihrer Dresdner
Zeit viel freier in ihren Mitteln geworden ist), in
allem Typischen sehr gut. Poldi Müller ist die an¬
nutigste unter den Frauen. Die „junge Frau“ (Sybil
Smolowa) hingegen überschminkt, viel zu dick unter
trichen und schon kokottenhaft in der Wirkung. Auch
stört ihr Zungen=R. Der Ehemann (Walter Tautz)
kein Schnitzler=Spieler, allzu berlinisch. Während der
Reigen sich nur auf unanfechtbar wienerischem Boder
bewegen darf. — Frau Elvira Bach spielte das Stuben.
mädchen, für das sie sich schon in der Berliner Urau
führung eingesetzt hat, schlicht und mit echter Emp
für die Alltagstragik dieses Geschöpfet
findung
Kurt Mikulski den Dichter nicht ohne Humor, aber
zu sehr als Conférencier und im Cabaretstil. „Der
junge Herr“ Heino Thiele, war bei allerlei Selbst¬
sicherheit hinreichend naiv.
Ferner wird noch bescheinigt: Die Aufführung is
in vielem reizvoll und durchweg decent. Die Theater¬
besucher bekundeten das Verständnis reifer Menschen
für den seinen Humor des „Reigens“ und die tiefere
Bedeutung des Kunstwerks. Und ein Kunstwerk bleibt
der „Reigen“. Natürlich keinesfalls für diejenigen,
denen das goethische Wort gilt:
Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.
Julius Ferdinand Wollf.“
ein andrer anders empfindet oder spricht als sie
e ihn daran hindern und ihn zwingen möchten,
Denk= und Redeweise der Philister arzupassen
freuzritter witterten Morgenluft. Ein Adressen¬
wurde inszeniert. Unterschrieben waren die Be¬
sigen der Aergernisnahme an der Komödie und
ufführung von willfährigen Hämmeln reaktlo¬
— das ergab sich bei
Schutz= und Trutzbünde, die
weder das Stück gelesen
—
ugenvernehmung
se Aufführung gesehen hatten. Unwilltürlich er¬
man sich beim Lesen dieses verdienstlichen Buches
zolfgang Heine des Biedermannes, der ein Pär¬
Stadtpark in einer Sommernacht belauscht und
hiert und in seiner Anzeige angibt: „Als ich mich
kt hatte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, das
ch erforderliche öffentliche Aergernis zu nehmen
ing zurück, traf die Genannten bei der gleicher
ftigung, nahm das öffentliche Aergernis und er¬
danach Anzeige.“ Kommt noch der Aristophanes
hier findet er.
frer Zeit den Spiegel liefert
dialogisiert, nur die künstlerische Concentration
eischend, die große Sittenkomödie der Deutscher
Jahrhunderts. Ja, es ist gut, daß dieser Prozef
t wurde. Und gut, wie er geführt worden ist.
äre es auch nur um dieses Dokumentes willen
viereinhalbhundert Seiten voll sind von Humor,
Satire, angesüllt mit Gestalten und Er
ngen, die die Phantasie eines Daumier zu be¬
vermöchten. „Der Viberpelz“, „Kater Lampe
„Der Kampf um den Reigen“, das sind nun die
stärksten deutschen Sitten= und politischen
dien.
keinem irrte das Gericht. Schnitzler schrieb den
n“ vor 23 Jahren nicht, um abzuschrecken und zu
Ein Kunstwerk hat keine Tendenz, auch keine
sche. Es ist ein Lebensreigen. So gesehen
andrer Künstler einen Totentanz macht
offenbar aus dem tiefen Bewußtsein, daß die
ben, die sich ein Leben lang um die Abgrenzung
besonderen Ichs mühen, plötzlich gleich und gleick
sind im Tode und im Geschlechtstrieb. Eine gar
fröhliche Wissenschaft spricht aus diesen Szenen.
Elegiker Schnitzler ist bei seinem Namensvetter
enhauer in die Schule gegangen, der erkannte, daß
Begierde des Geschlechts einen von jeder ander:
erschiedenen Charakter trage: sie ist nicht nur die
e, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als
Das Opfer des Individuums an die Gat¬
idern“.
auch dies erkannte Schopen¬
äßt den Opfernden —
in eigen¬
in seinen tiefen Zusammenhängen
r (auch scelischer) Erschöpfung zurück. Ja, der
er Schopenhauer verzeichnet hier, daß das ehern
gesetz gewissen Arten von Lebewesen den Tod
box 18/3
ganz nahe hinter die höchste Bejahung des Willens zum
Im
Dasein, dicht hinter die Triebentladung gelegt hat.
weiten Band seines Hauptwerkes steht zu lesen: „Den
illem entspricht die wichtige Rolle, welche das Geschlechts¬
verhältnis in der Menschenwelt spielt, als wo es eigent¬
lich der unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Trei¬
ens ist und trotz allen ihm übergeworfenen Schleiern
iberall hervorguckt. Es ist die Ursache des Krieges und
der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes
und . .. der allezeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur
weil ihm der tiefste Ernst zugrunde liegt. Das aber
st das Pikante und der Spaß der Welt, daß die Haupt¬
angelegenheit aller Menschen heimlich betrieben und
ostensibel möglichst ignoriert wird. In der Tat aber
sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als den eigent¬
lichen und erblichen Herrn der Welt aus eigener Macht¬
ollkommenheit auf den angestammten Thron setzen und
von dort herab mit höhnenden Blicken der Anstalter
achen, die man getroffen hat, sie zu bändigen ... wo¬
nöglich ganz verdeckt zu halten oder doch so zu be¬
meistern, daß sie nur als eine ganz untergeordnete
Nebenangelegenheit des Lebens zum Vorschein komme.
Diese Abhängigkeit fühlt schmerzlich der Denker, der
die „Freiheit“ schließlich weit in das Metaphysische ver¬
setzen muß. Aber er findet auch den tiesen Humor dieser
bhängigkeit geprägt in dem Spruch über der Tür eines
Lupanars in Pompeji: „Hier wohnt die Glückseligkeit.
Diese Inschrift war „für den Hineingehenden. naiv, für
en Herauskommenden ironisch, und an sich selbst
humoristisch“
Auch über Schnitzlers „Reigen“ steht im tieferen
Nu#
Sinn jene Inschrift: „Hic habitat felicitas.
daß der Humor bei der Betrachtung der Hinein= uni
Hinausgehenden durch einen durchaus melancholischen
Grundzug bezeichnet ist. Der Reichtum der Gestalten,
der Rhythmus, in dem sie sich anziehen und abstoßen,
die seltene Grazie des Dialogs, die Sehnsucht aller nach
dem tieferen Erlebnis, das tragische Versinken aus dem
roten Rausch in graue Baualität, und wie leiser Humor
— all das macht den Reigen
sich über die Elegie breitet
zu einer in ihrer Art vollendeten Dichtung.
Die Abhängigkeit vom Triebhaften, in der Dirn
völlig naiv und unbewußt, läßt die Aermste und Letzte
als die Wahrhaftigste sich enthüllen. Ein allen gemein¬
ames Reigenband macht auch die Triebverkleidung aus
Schon
Jeder balancirt da seine Lebenslüge vor sich her.
der junge Herr braucht Masken seines Gefühls. Diese
eelische Verkleidung wechselt höchst ergötzlich, so sehr sie
sich gleich bleibt bei der jungen Frau, bei dem Ehemann
ei dem süßen Mädel, dem Dichter, der Schauspielerin
dem Grafen. Und immer bleibt obenauf jene allen
Werken Schnitzlers eigene Schwermut, die selbst im
lustigen Abschiedssouper vernehmbar ist. Nein, es gibt
da nichts zu schauen für Voyeurs. Wer sich auf die
Reklame der sittlich entrüsteten Aergernisteilnehmer ver¬
läßt, kommt ebensowenig auf seine Kosten, wie der kürz¬
lich im „Simplizissimus“ von Gulbransson genial ge¬
zeichnete Spießer, der, gierig die Großstadtluft schnap¬
pend, einen Schutzmann befragt: „Hamm Se hier nich
ißchen was Lasterhaftes, aber nich zu stark, daß es meine
Frau voch sehn kann.“ Die leere Bühne in „Fräulein
Julie“ von Strindberg, die Szene, in der Hebbels
— um
Judith dem Holofernes anheimfällt, sind
nur zwei klassische Beispiele anzuführen — sehr viel
drastischer, als einer der Reigen=Dialoge. Wollte einer
einwenden. in der Tragödie sei von wegen des Straf¬
vollzuges der Gerechtigkeit erlaubt, was sonst verboten
sei, so ist darauf zu erwidern, daß die leise Tragik
dieser Szenen uns menschlich um so viel näher liegt.
Nicht zu leugnen ist: auch in der durchaus decenten
Aufführung im Residenztheater vergröbert sich unver¬
meidlich manches, was, in der Dichtung von empfind¬
ichster Feinheit, schon durch die Verkörperung auf der
Bühne irgendwie dem Realismus ausgesetzt ist. Die
Gefahr für die Dichtung, die Gefahr der beflissenen
Verharmlosung ist nicht gering. Was ein Reigen
kann nur zu leicht eine Anekdotenreihe werden im
Rampenlicht. Ich kann mir in der Art eines Toten¬
tanzes den Reigen ringsum von der Dirne bis zur
Dirne rhythmisch stärker betont, szenisch enger, fugenlos
aneinander geschlossen denken. Das ist aber nur mög¬
ich bei unbedingter Stilisierung. Die Musik, die die
Sittlichkeitsnachtwächter in Berln so erschröcklich un¬
eusch befanden, vermag diesen rhythmischen Zusammen¬
ang, diese spielerische Einheit nicht zu schaffen. Auf
mich wirkte sie eintönig in all ihrer aktenmäßig beschei¬
nigten Wohlanständigkeit.
Dagegen wurden die einzelnen Szenen für sich gut,
zum Teil hervorragend gespielt. Schauspielerisch das
Feinste und zugleich Stärkste gab Gustav Heppner
n der Szene mit der Schauspielerin, die in Jutta
Versen eine gleichwertige Vertreterin fand. In den
Szenen dieser beiden Künstler herrschte die Satire und
ein teils sehr feiner, teils entzückend travestierender
Humor. Dennoch blieb die leise Melancholie fühlbgr.
Man hatte wenn auch lächelndes Mitleid mit diesem
früh vergreisenden Grafen, sah, wie auch hinter der
großen Pose der Schausvielerin die Angst vor dem
Altern lauerte. — Maria Holmbetont den angeborenen
Charakter, das Naive der Dirne sehr glücklich. Das
Wienerische treffen Hugo Claus (Soldat) und das
üße Mädel. Poldi Müller (die seit ihrer Dresdner
Zeit viel freier in ihren Mitteln geworden ist), in
allem Typischen sehr gut. Poldi Müller ist die an¬
nutigste unter den Frauen. Die „junge Frau“ (Sybil
Smolowa) hingegen überschminkt, viel zu dick unter
trichen und schon kokottenhaft in der Wirkung. Auch
stört ihr Zungen=R. Der Ehemann (Walter Tautz)
kein Schnitzler=Spieler, allzu berlinisch. Während der
Reigen sich nur auf unanfechtbar wienerischem Boder
bewegen darf. — Frau Elvira Bach spielte das Stuben.
mädchen, für das sie sich schon in der Berliner Urau
führung eingesetzt hat, schlicht und mit echter Emp
für die Alltagstragik dieses Geschöpfet
findung
Kurt Mikulski den Dichter nicht ohne Humor, aber
zu sehr als Conférencier und im Cabaretstil. „Der
junge Herr“ Heino Thiele, war bei allerlei Selbst¬
sicherheit hinreichend naiv.
Ferner wird noch bescheinigt: Die Aufführung is
in vielem reizvoll und durchweg decent. Die Theater¬
besucher bekundeten das Verständnis reifer Menschen
für den seinen Humor des „Reigens“ und die tiefere
Bedeutung des Kunstwerks. Und ein Kunstwerk bleibt
der „Reigen“. Natürlich keinesfalls für diejenigen,
denen das goethische Wort gilt:
Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.
Julius Ferdinand Wollf.“