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11. Reigen
chten
Dresiner Neueste. Ie
Dresden
2 9301.1885
Reigen
.. . Nun also auch in Dresden. „Im Re##denz¬
theater. Ein Berliner Ensemble, dem einige unter
dem Rubrum „Reigen“ in den Prozissen gegen das
„Kleine Schauspielhaus“ vielgengnntesKünstler ange¬
hören, darunter der Berliner Reigen=Regisseur Hubert
Reusch, führen die zehn Dialoge von Arthur
Schnitzler auf. Es geschieht hinter moralischem
Stache#####e „Der Eintritt
ist.
nur Personen
über 20 Jahren gestattet.“ (Es wurden indessen keine
Geburtsscheine verlangt. Einige, die erst 19 Jahre un
364 Tage alt waren und noch an den Klapperstorch
glaubten, schmuggelten sich ein und wurden aufgeklärt.
Ferner stand zu lesen: „Die neuen Dekorationen sint
stilisiert, nicht realisiert.“ (An dem Realismus eines
Bettes hatten sich, wie aus dem Prozeß erinnerlich,
Sittlichkeitspächter und Gesittungsschnüffler in Berlir
gestoßen. Also Vorsicht!) Gemeint war. die Deko¬
rationen seien nicht realistisch. Ich glaube, es wärc
schwer, sie zu realisieren. Eine kompakte Majoritä
würde bei einer Versteigerung des Möblemangs nicht
mitbieten. Außerdem hatte man das Programmbuch
zu einer moralischen Anstalt gemacht mit Citaten aus
den Berliner Sachverständigen=Gutachten und dem
gerichtlichen Urteil. So viel Schutz schien nötig
den feierlichen Urteilen zweier Berliner Gerichtshöfe,
die übereinstimmend und mit eingehender Begründung
des
die ethische und die künstlerische Bedeutung
die
Reigens, als eines echten Kunstwerkes erkannt,
Aufführung als decent, ja als „eine sittliche
bezeichnet hatten. In dem freisprechenden Urteil
Strafkammer heißt es: „Auch der Aufführung des
Stückes liegt eine sittliche Idee zugrunde, die es zum
Kunstwerk macht und die Aufführung als Ganzes kann
daher bei den normalen Menschen unzüchtige Empfin¬
dungen nicht hervorrufen.
Haben die Gerichtshöfe in Deutschland nichts Wich¬
tigeres zu verhandeln? Die Frage vernahm man öster.
Die Antwort kann nur geben, wer den vollständigen
Bericht über die sechstägige Gerichtsverhandlung gegen
Direktion und Darsteller des „Kleinen Schauspiel¬
hauses“ in Berlin studiert hat. Der bekannte Rechts¬
anwalt und frühere preußische Minister des Innern
Wolfgang Heine hat in einem 448 Seiten starken
Ernst
Band („Der Kampf um den Reigen“
Rowohlt, Verlag, Berlin) dieses menschliche Dokument
herausgegeben und mit einer glänzend geschriebenen
Einleitung begleitet. Er sagt: „Die Bedeutung des
Prozesses liegt auf künstlerischem und auf politischem Ge.
biet. Wir hatten den Kampf zu führen gegen die un¬
keusche Prüderie, gegen jene Philister, die sich ärgern
wenn ein andrer anders empfindet oder spricht als sie
und die ihn daran hindern und ihn zwingen möchten,
sich der Denk= und Redeweise der Philister arzupassen.
Hakenkreuzritter witterten Morgenluft. Ein Adressen¬
turm wurde inszeniert. Unterschrieben waren die Be¬
kundungen der Aergernisnahme an der Komödie und
der Aufführung von willfährigen Hämmeln reaktio¬
das ergab sich be
närer Schutz= und Trutzbünde, die —
weder das Stück geleser
—
der Zeugenvernehmung
noch die Aufführung gesehen hatten. Unwillkürlich er¬
nnert man sich beim Lesen dieses verdienstlichen Buches
von Wolfgang Heine des Biedermannes, der ein Pär¬
chen im Stadtpark in einer Sommernacht belauscht un
denunziert und in seiner Anzeige angibt: „Als ich mich
entfernt hatte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, das
juristisch erforderliche öffentliche Aergernis zu nehmen
Ich ging zurück, traf die Genannten bei der gleichen
Beschäftigung, nahm das öffentliche Aergernis und er¬
tattete danach Anzeige.“ Kommt noch der Aristophanes,
der unfrer Zeit den Spiegel liefert — hier findetter,
schon dialogisiert, nur die künstlerische Concentration
noch heischend, die große Sittenkomödie der Deutschen
des 20. Jahrhunderts. Ja. es ist gut, daß dieser Prozef
geführt wurde. Und gut, wie er geführt worden ist.
Und wäre es auch nur um dieses Dokumentes willen
dessen viereinhalbhundert Seiten voll sind von Humor,
Ironie, Satire, angesüllt mit Gestalten und Er¬
scheinungen, die die Phantasie eines Daumier zu be¬
flügeln vermöchten. „Der Biberpelz“, „Kater Lampe
und — „Der Kampf um den Reigen“, das sind nun die
drei stärksten deutschen Sitten= und politischen
Komödien,
In einem irrte das Gericht. Schnitzler schrieb den
„Reigen“ vor 23 Jahren nicht, um abzuschrecken und zu
bessern. Ein Kunstwerk hat keine Tendenz, auch keine
moralische. Es ist ein Lebensreigen. So gesehen,
vie ein andrer Künstler einen Totentanz macht
Ganz offenbar aus dem tiefen Bewußtsein, daß die
Menschen, die sich ein Leben lang um die Abgrenzung
hres besonderen Ichs mühen, plötzlich gleich und gleich
klein sind im Tode und im Geschlechtstrieb. Eine gar
nicht fröhliche Wissenschaft spricht aus diesen Szenen.
Der Elegiker Schnitzler ist bei seinem Namensvetter
Schopenhauer in die Schule gegangen, der erkannte, daß
die Begierde des Geschlechts einen von jeder andern
sehr verschiedenen Charakter trage: sie ist nicht nur die
tärkste, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als
alle andern“. Das Opfer des Individuums an die Gat
tung läßt den Opfernden — auch dies erkannte Schopen¬
— in eigen
auer in seinen tiefen Zusammenhängen
artiger (auch scelischer) Erschöpfung zurück. Ja, der
Forscher Schopenhauer verzeichnet hier, daß das ehern
Naturgesetz gewissen Arten von Lebewesen den Tod
ganz nahe hinter die höchste Bejahung des
Dasein, dicht hinter die Triebentladung gel
zweiten Band seines Hauptwerkes steht zu
allem entspricht die wichtige Rolle, welche da
verhältnis in der Menschenwelt spielt, als
lich der unsichtbare Mittelpunkt alles Tun
bens ist und trotz allen ihm übergeworfen
überall hervorguckt. Es ist die Ursache des
der Zweck des Friedens, die Grundlage
und . . . der allezeit bereite Stoff zum Sche
weil ihm der tiefste Ernst zugrunde liegt
st das Pikante und der Spaß der Welt, da
angelegenheit aller Menschen heimlich be
ostensibel möglichst ignoriert wird.
In
sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als
lichen und erblichen Herrn der Welt aus ei
vollkommenheit auf den angestammten Thre
von dort herab mit höhnenden Blicken
achen, die man getroffen hat, sie zu bändi
möglich ganz verdeckt zu halten oder di
meistern, daß sie nur als eine ganz un
Nebenangelegenheit des Lebens zum Vorsch
Diese Abhängigkeit fühlt schmerzlich der
die „Freiheit“ schließlich weit in das Metaf
etzen muß. Aber er findet auch den tiesen
Abhängigkeit geprägt in dem Spruch über
Lupanars in Pompeji: „Hier wohnt die G
Diese Inschrift war „für den Hineingehend
den Herauskommenden ironisch, und a
umoristisch“.
Auch über Schnitzlers „Reigen“ steht
Sinn jeue Inschrift: „Hic habitat felic
daß der Humor bei der Betrachtung der
Hinausgehenden durch einen durchaus m
Grundzug bezeichnet ist. Der Reichtum di
der Rhythmus, in dem sie sich anziehen u
ie seltene Grazie des Dialogs, die Sehnsu
em tieferen Erlebnis, das tragische Versin
coten Rausch in graue Banalität, und wie
ich über die Elegie breitet — all das macht
zu einer in ihrer Art vollendeten Dichtung
Die Abhängigkeit vom Triebhaften, in
völlig naiv und unbewußt, läßt die Aermste
als die Wahrhaftigste sich enthüllen. Ein al
ames Reigenband macht auch die Triebverk
Jeder balancirt da seine Lebenslüge vor sich
der junge Herr braucht Masken seines Gefü
celische Verkleidung wechselt höchst ergötzlich
sich gleich bleibt bei der jungen Frau, bei den
ei dem süßen Mädel, dem Dichter, der Sc
dem Grafen. Und immer bleibt obenau
di
Werken Schnitzlers eigene Schwermut,
9
lustigen Abschiedssouper vernehmbar ist.
11. Reigen
chten
Dresiner Neueste. Ie
Dresden
2 9301.1885
Reigen
.. . Nun also auch in Dresden. „Im Re##denz¬
theater. Ein Berliner Ensemble, dem einige unter
dem Rubrum „Reigen“ in den Prozissen gegen das
„Kleine Schauspielhaus“ vielgengnntesKünstler ange¬
hören, darunter der Berliner Reigen=Regisseur Hubert
Reusch, führen die zehn Dialoge von Arthur
Schnitzler auf. Es geschieht hinter moralischem
Stache#####e „Der Eintritt
ist.
nur Personen
über 20 Jahren gestattet.“ (Es wurden indessen keine
Geburtsscheine verlangt. Einige, die erst 19 Jahre un
364 Tage alt waren und noch an den Klapperstorch
glaubten, schmuggelten sich ein und wurden aufgeklärt.
Ferner stand zu lesen: „Die neuen Dekorationen sint
stilisiert, nicht realisiert.“ (An dem Realismus eines
Bettes hatten sich, wie aus dem Prozeß erinnerlich,
Sittlichkeitspächter und Gesittungsschnüffler in Berlir
gestoßen. Also Vorsicht!) Gemeint war. die Deko¬
rationen seien nicht realistisch. Ich glaube, es wärc
schwer, sie zu realisieren. Eine kompakte Majoritä
würde bei einer Versteigerung des Möblemangs nicht
mitbieten. Außerdem hatte man das Programmbuch
zu einer moralischen Anstalt gemacht mit Citaten aus
den Berliner Sachverständigen=Gutachten und dem
gerichtlichen Urteil. So viel Schutz schien nötig
den feierlichen Urteilen zweier Berliner Gerichtshöfe,
die übereinstimmend und mit eingehender Begründung
des
die ethische und die künstlerische Bedeutung
die
Reigens, als eines echten Kunstwerkes erkannt,
Aufführung als decent, ja als „eine sittliche
bezeichnet hatten. In dem freisprechenden Urteil
Strafkammer heißt es: „Auch der Aufführung des
Stückes liegt eine sittliche Idee zugrunde, die es zum
Kunstwerk macht und die Aufführung als Ganzes kann
daher bei den normalen Menschen unzüchtige Empfin¬
dungen nicht hervorrufen.
Haben die Gerichtshöfe in Deutschland nichts Wich¬
tigeres zu verhandeln? Die Frage vernahm man öster.
Die Antwort kann nur geben, wer den vollständigen
Bericht über die sechstägige Gerichtsverhandlung gegen
Direktion und Darsteller des „Kleinen Schauspiel¬
hauses“ in Berlin studiert hat. Der bekannte Rechts¬
anwalt und frühere preußische Minister des Innern
Wolfgang Heine hat in einem 448 Seiten starken
Ernst
Band („Der Kampf um den Reigen“
Rowohlt, Verlag, Berlin) dieses menschliche Dokument
herausgegeben und mit einer glänzend geschriebenen
Einleitung begleitet. Er sagt: „Die Bedeutung des
Prozesses liegt auf künstlerischem und auf politischem Ge.
biet. Wir hatten den Kampf zu führen gegen die un¬
keusche Prüderie, gegen jene Philister, die sich ärgern
wenn ein andrer anders empfindet oder spricht als sie
und die ihn daran hindern und ihn zwingen möchten,
sich der Denk= und Redeweise der Philister arzupassen.
Hakenkreuzritter witterten Morgenluft. Ein Adressen¬
turm wurde inszeniert. Unterschrieben waren die Be¬
kundungen der Aergernisnahme an der Komödie und
der Aufführung von willfährigen Hämmeln reaktio¬
das ergab sich be
närer Schutz= und Trutzbünde, die —
weder das Stück geleser
—
der Zeugenvernehmung
noch die Aufführung gesehen hatten. Unwillkürlich er¬
nnert man sich beim Lesen dieses verdienstlichen Buches
von Wolfgang Heine des Biedermannes, der ein Pär¬
chen im Stadtpark in einer Sommernacht belauscht un
denunziert und in seiner Anzeige angibt: „Als ich mich
entfernt hatte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, das
juristisch erforderliche öffentliche Aergernis zu nehmen
Ich ging zurück, traf die Genannten bei der gleichen
Beschäftigung, nahm das öffentliche Aergernis und er¬
tattete danach Anzeige.“ Kommt noch der Aristophanes,
der unfrer Zeit den Spiegel liefert — hier findetter,
schon dialogisiert, nur die künstlerische Concentration
noch heischend, die große Sittenkomödie der Deutschen
des 20. Jahrhunderts. Ja. es ist gut, daß dieser Prozef
geführt wurde. Und gut, wie er geführt worden ist.
Und wäre es auch nur um dieses Dokumentes willen
dessen viereinhalbhundert Seiten voll sind von Humor,
Ironie, Satire, angesüllt mit Gestalten und Er¬
scheinungen, die die Phantasie eines Daumier zu be¬
flügeln vermöchten. „Der Biberpelz“, „Kater Lampe
und — „Der Kampf um den Reigen“, das sind nun die
drei stärksten deutschen Sitten= und politischen
Komödien,
In einem irrte das Gericht. Schnitzler schrieb den
„Reigen“ vor 23 Jahren nicht, um abzuschrecken und zu
bessern. Ein Kunstwerk hat keine Tendenz, auch keine
moralische. Es ist ein Lebensreigen. So gesehen,
vie ein andrer Künstler einen Totentanz macht
Ganz offenbar aus dem tiefen Bewußtsein, daß die
Menschen, die sich ein Leben lang um die Abgrenzung
hres besonderen Ichs mühen, plötzlich gleich und gleich
klein sind im Tode und im Geschlechtstrieb. Eine gar
nicht fröhliche Wissenschaft spricht aus diesen Szenen.
Der Elegiker Schnitzler ist bei seinem Namensvetter
Schopenhauer in die Schule gegangen, der erkannte, daß
die Begierde des Geschlechts einen von jeder andern
sehr verschiedenen Charakter trage: sie ist nicht nur die
tärkste, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als
alle andern“. Das Opfer des Individuums an die Gat
tung läßt den Opfernden — auch dies erkannte Schopen¬
— in eigen
auer in seinen tiefen Zusammenhängen
artiger (auch scelischer) Erschöpfung zurück. Ja, der
Forscher Schopenhauer verzeichnet hier, daß das ehern
Naturgesetz gewissen Arten von Lebewesen den Tod
ganz nahe hinter die höchste Bejahung des
Dasein, dicht hinter die Triebentladung gel
zweiten Band seines Hauptwerkes steht zu
allem entspricht die wichtige Rolle, welche da
verhältnis in der Menschenwelt spielt, als
lich der unsichtbare Mittelpunkt alles Tun
bens ist und trotz allen ihm übergeworfen
überall hervorguckt. Es ist die Ursache des
der Zweck des Friedens, die Grundlage
und . . . der allezeit bereite Stoff zum Sche
weil ihm der tiefste Ernst zugrunde liegt
st das Pikante und der Spaß der Welt, da
angelegenheit aller Menschen heimlich be
ostensibel möglichst ignoriert wird.
In
sieht man dieselbe jeden Augenblick sich als
lichen und erblichen Herrn der Welt aus ei
vollkommenheit auf den angestammten Thre
von dort herab mit höhnenden Blicken
achen, die man getroffen hat, sie zu bändi
möglich ganz verdeckt zu halten oder di
meistern, daß sie nur als eine ganz un
Nebenangelegenheit des Lebens zum Vorsch
Diese Abhängigkeit fühlt schmerzlich der
die „Freiheit“ schließlich weit in das Metaf
etzen muß. Aber er findet auch den tiesen
Abhängigkeit geprägt in dem Spruch über
Lupanars in Pompeji: „Hier wohnt die G
Diese Inschrift war „für den Hineingehend
den Herauskommenden ironisch, und a
umoristisch“.
Auch über Schnitzlers „Reigen“ steht
Sinn jeue Inschrift: „Hic habitat felic
daß der Humor bei der Betrachtung der
Hinausgehenden durch einen durchaus m
Grundzug bezeichnet ist. Der Reichtum di
der Rhythmus, in dem sie sich anziehen u
ie seltene Grazie des Dialogs, die Sehnsu
em tieferen Erlebnis, das tragische Versin
coten Rausch in graue Banalität, und wie
ich über die Elegie breitet — all das macht
zu einer in ihrer Art vollendeten Dichtung
Die Abhängigkeit vom Triebhaften, in
völlig naiv und unbewußt, läßt die Aermste
als die Wahrhaftigste sich enthüllen. Ein al
ames Reigenband macht auch die Triebverk
Jeder balancirt da seine Lebenslüge vor sich
der junge Herr braucht Masken seines Gefü
celische Verkleidung wechselt höchst ergötzlich
sich gleich bleibt bei der jungen Frau, bei den
ei dem süßen Mädel, dem Dichter, der Sc
dem Grafen. Und immer bleibt obenau
di
Werken Schnitzlers eigene Schwermut,
9
lustigen Abschiedssouper vernehmbar ist.