II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1135

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11.
Wie
vermeidet
man
einen
Theaterskandal? Man bedrucke die Ein¬
trittskarten mit folgenden Worten: „Bei Lösung
der Eintrittskarte übernimmt der Besucher die
Verpflichtung, sich jeder Bei- oder Mißfolle¬
bezeigung zu enthalten.“ So hat es nämlich die
Direktion des Heilbronner Stadttheatere
gemacht, als sie dieser Tage Schnitzlers „Rei¬
gen“ aufführte. Der Erfolg war der, daß sich
niemand muckste. Für alle Fälle hatte sich aber
die Theaterleitung noch ein starkes Polizei¬
aufgebot gesichert, das aber nicht in Aktion zu
treten brauchte.
Deutsche Worte.
Beutst du dem Geiste seine Nahrung,
so laß nicht darben dein Gemüt.
Fontane.
Schnitzlers „Reigen“.
Gastspiel des Ehemnitzer Thaliatheaters.
Rückständig wollen wir Provinzler nicht
gern bleiben, gewiß nicht! Wir begehren viel¬
mehr auch unsren Teil von den Kulturgütern,
die der Größstadt aus frischem Quell zufließen.
Ob sun sfreilich die Kenntnis von Arthur
Schnitzlers „Reigen“ ein so unbedingtes Er¬
fordernis für uns ist, bleibt dem Urteil derer
überlassen, die verfolgt haben, wie im vorigen
Jahr das Schnitzlersche Werk selbst den Gerich¬
ten Kopfzerbrechen gemacht und nun — oder
vielmehr gerade darum einen höchst unberech¬
tigten Siegeszug gehalten hat durch die Gro߬
städte Deutschlands. Schnitzler will ja das
Bühnenspiel nicht für die Oeffentlichkeit ge
schrieben haben — wir wollen die Aufrichtigkeit
dieser Behauptung nicht in Zweifel ziehen
aber böse wird der Dichter auch nicht gewesen
sein, wenn ihm die wunderliche Berühmtheit
seines Stückes nebenbei noch zu einem glänzen¬
den Geschäft verholfen hat. Schnitzlers Gestal¬
ten haben sich unterdessen im Liebestaumel des
Reigens“ vor den entzückten Augen der Gro߬
städter ausgerast, jetzt wanken sie in die Pro¬
vinz, wo sie in der Sensationslust eines noch
nicht allzu verwöhnten Publikums den Nähr¬
boden für neue Erfolge zu finden hoffen. In¬
des, sie erscheinen doch bereits stark abgegriffen,
man hat zuviel von ihnen gehört und geredet,
der Ruf der Neuheit will ihnen drum schon nicht
mehr recht voraus, daß sie befürchten müßten
von der Masse der Zuschauer erdrückt zu werden
Wenn trotzdem gestern abend im „Linden
hof“ die Mitglieder des Chemnitzer Thalia¬
theaters vor fast gefülltem Saale spielen durf¬
ten, so mögen sie sich dessen freuen. Wir aber
gehen in der Gewißheit kaum fehl, daß Schnitz¬
des Experiment — denn einen
tizzenhaft hin¬
höheren Werke
ich
geworfenen Werk schwerlich zusprechen
überlebt hat und in einiger Zeit völlig vergessen
sein wird. Hätten die Chemnitzer Gäste nun in
der gestrigen Aufführung besonderen Wert auf
die sichtbare Hervorkehrung und sinnfällige Be¬
tonung des Menschlich=Triebhaften gelegt, was
die 10 Dialoge bis zur Ermüdung als fast aus¬
schließliche Quintessenz erfüllt, so würde ihnen
allein schon der primitive Apparat der „Linden¬
hof“=Bühne mit seinen in ihrer naiven Ein¬
achheit oft geradezu humorvoll wirkenden Dar¬
stellungsmöglichkeiten einen Strich durch die
Rechnung gemacht haben. Indes ging die
Truppe selbst in den gewagtesten Situationen
nicht über die Grenzen des Erträglichen hinaus,
vielleicht zum nicht geringen Kummer einer ge¬
wissen Sorte von jugendlichen Besuchern, die
ich auf pikante Ueberraschungen gefaßt gemacht
hatte. Um die Monotonie des „Reigens“ wie
sie in der zehnmaligen Wiederholung ein und
desselben Motivs zum Ausdruck kommt, zu mil¬
dern, hätte allerdings eine noch schärfere Cha¬
rakterisierung der Gestalten in Wort und Geste
gelegentlich nichts geschadet: Der Ehegatte Hans
Mundorffs war ein rechter Schlappstiefel
und die Schauspielerin von Frl. Brauer hätte
man im vorletzten Dialog schon ganz gerne
einige Grad raffinierter gesehen.
So wai denn der Gesamteindruck des Gast¬
spiels ein verhältnismäßig harmloser. Mancher
Besucher wird auf Grund dieser Aufführung
nicht recht begreifen, wie der „Reigen“ einst so
viel Staub hat aufwirbeln können. Und wenn
in ihm ob dieser Erwägung nicht etwa ein Ge¬
—.
ühl der Enttäuschung noch Platz gegriffen hat,
G. K.
oist das nur recht gut.