II, Theaterstücke 11, (Reigen, 1), Reigen: Frankreich, Seite 110


burleske Verführung durch die Dame von Welt willig
glaubte. Das Werk wurde mit starker Einfühlung auf¬
genommen und gewürdigt, nicht als literarisches Experiment,
sondern als Kunstwerk. „Die Buntheit, die Schnitzler in
diesen Episoden der Lust, des Besitzes und der Enttäuschung
aufleuchten läßt, ist wahrhaft tief und original“, schrieb ein
Kritiker.
Wenige Tage zuvor hatten die Pitoeffs Strind¬
bergs „Mademoiselle Julie“ gespielt. Es ist
interessant zu sehen, wie die konservativen und so überaus
„normalen“ Londoner darauf reagierten. Die verhängnisvolle
Intensität der Gedanken und feelischen Schwingungen in
Strindbergs Stücken greift in den Augen vieler Zuseher so
weit über das hinaus, was sie in ihrem gewöhnlichen
Menschenverstand für Natur halten, daß sie, die Zuseher, mit
einem Gegenangriff antworten und geneigt sind, Strindberg
für wahnsinnig zu erklären. Dies schrieb vor vielen Jahren
Alexej Tolstoi, und gerade in England gilt es mehr denn
anderswo. Für die kühle Aufnahme seiner Strindberg=Vor¬
stellung wurde Pitoeff aber durch den Erfolg des „Reigens",
wie gesagt, doppelt entschädigt.
Das Wagner=Jubiläum, das seinen richtigen
Ausdruck erst in den Festspielen der Coventgarden Opera
finden wird, bot außer einem sehr feierlichen Konzert des
Londoner Symphonieorchesters unter der Leitung Hans
Weisbachs, außer Reden und Zeitungsaufsätzen, auch
Anlaß zu mehr oder weniger melancholischen Betrachtungen
über die englische Oper. Im Douglas Webber Theatre, einer
kleinen Privatbühne des Londoner Westens, gab der
berühmte Virtuose und Musikforscher Vaughan Williams
einen kurzen Ueberblick darüber. „Viele, ja die meisten
Mängel, die Richard Wagner, ein unbekannter Dirigent
einer schlechten kleinen Provinztruppe Süddeutschlands, vor
hundert Jahren an dem Zustand der deutschen Oper zu rügen
hatte, sind heute in genau demselben Maße in der englischen.
Oper lebendig,“ sagte Dr. Williams. „Mangel an Interesse,
an Organisation, an Sachkundigkeit, an Verständnis. In
einem Punkt ist das Deutschland von 1833 dem England
von 1933 sogar überlegen — dort gab es wenigstens auch
in den kleinen Städten Opernbühnen und das Publikum
ging hin, während man das von unserer Provinz wahrlich
nicht sagen kann. Und dabei kann über Mangel im Reper¬
toire nicht geklagt werden.“ Dr. Williams zitierte nicht
weniger als 48 Opern, die in den letzten 20 Jahren von
englischen Komponisten veröffentlicht worden sind.
Der „musikfremde“ Engländer.
Die Musikfremdheit des Engländers, die aus alledem
spricht, ist nicht weniger charakteristisch als seine Anhänglich¬
keit, ja sein Enthusiasmus für klassische Werke, zum Beispiel
Glucks Opern, wenn sich diese einmal in der Tradition
eingenistet haben. Man braucht nur zu evrägen, wie die
Neueinstudierung von Glucks „Iphigenie in Tauris“
aufgenommen wurde, die am 18. Februar von den
Falmouth Players, einer
Amateurgesellschaft, ver¬
anstaltet worden ist. Andere bemerkenswerte Musik¬
ereignisse waren zwei überaus erfolgreiche Konzerte der
Berliner Philharmoniker unter Furtwängler und ein Konzert
Arnold Schönbergs.
Klassische Universitätsatmosphäre edelster Prägung
wehte aus der Orestie von Aeschylus, welche die Cambridger
Studenten aufführten.
Der englische Klassizismus ist
gewiß eines der merkwürdigsten und anziehendsten Kenn¬
zeichen einer Geistigkeit, die, vielleicht als einzige in Europa,
mit ihren Wurzeln noch organisch herabreicht bis in die
Kraft= und Nährquellen der Antike. Herrliche, beneidens¬
werte Kontinuität und Echtheit! Einer Aeschylus=Aufführung
in Cambridge beiwohnen zu dürfen, ist Grund genug, um
Anglomane zu werden.
Premierenflut.
In den Theatern hat nach einer kurzen Zeit der Stille
wieder die Hochflut der Premieren eingesetzt. Wir wollen
nur einige herausgreifen. Im Old Vic, dem einzigen Theater,
das regelmäßig Shakespeare spielt, ging ein „Maria¬
Stuart“=Schauspiel von John Drinkwater in
Szene, das an einem Abend mit dem bekannten „Thead¬
mirable Bashville“ von Shaw gegeben wird. Shaws
Schwank verdunkelt das ihm vorangehende historische Mach¬
werk vollständig, und dieser drollige Kontrast lockt nun seit
einiger Zeit das Publikum. „Richard de Bordeaux“,
ein anderes historisches Stück, das im New Theatre ge¬
spielt wird, hat dagegen großen Erfolg. Der Autor, Gordon
Daviot, hat es verstanden, die Tragödie Richards II. neu¬
artig und ohne Anachronismen sehr modern darzustellen.