II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 16

Theater, Kunst und Literatur.
L. H—i. Wiener Theater. Im Burgtheater ist
gestern Arthur Schnitzler's dreiaktiges Schauspiel: „Das Ver¬
mächtniß“ mit vielem Beifall ausgenommen worden. Es ist kein Stück
nach der verläßlichen Schablone, mit einer mannigfaltigen und gut
zugespitzten Handlung, die ihre Kunstpausen für den Beifall macht. Es
hat vielmehr schon technisch manches Gewagte, z. B. daß von den drei
Akten jeder mit einem Tod schließt oder daß die beiden letzten Akte fast
nur über die Folgen des ersten debattiren, ... wie man es von
Ibsen's „Klein Eyolf“ her kennt. Und dennoch fühlte sich das
Publikum tief berührt, ja zum Theil wirklich ergriffen; es stieß sich
nicht einmal an der spezifischen „Traurigkeit“ der Vorgänge, die es sich
in der Regel zu verbitten pflegt. Das kam aber von der großen Auf¬
richtigkeit dieser Poesie und des Gefühls, das in ihr zu Tage tritt. Die
Wärme, womit der Dichter seine Moralthese, eine These der natür¬
lichen, nicht der konventionellen Moral, versicht, ließ die Zuschauer sogar
gegen sich selber Partei nehmen, insofern es ja feststeht, daß Wenige
von ihnen in ihrer eigenen Familie so handeln würden, wie Schnitzler
es insinuirt. In den moderneren Kreisen der Galerie fand die kühne
Tendenz des Dichters sogar demonstrative Zustimmung. Bei den
Worten: „Was einen guten Menschen so glücklich macht, kann nicht
Sünde sein“ brach oben ein Beifallssturm aus. Die Applaudirenden
waren allerdings schwerlich Professoren und Reichstags=Abgeordnete
mit Weib und Tochter, wie Herr Losatti, in dessen Hause das
Schnitzler'sche Drama vor sich geht. Losatti's Sohn, Hugo, verunglückt
inclusive
beim Reiten und wird sterbend nachhause gebracht. Sein letzter
Porto.
Zahlbar
Wunsch ist, daß die Familie seine Geliebte Toni Weber und ihren
im Voraus
kleinen Franzl in ihren Schoß aufnehme, ja im Hause wohnen lasse,
als wären sie legitim. Das ist nun allerdings eine schwere Sache; es ### ist das
sind so viele hochanständige Frauen und Mädchen im Hause, denen sicht es der
man eine solche Tochterschaft und Schwesterschaft nicht gut zumuthen ndern.
kann. Die Herren stehen auch auf diesem Standpunkte und
der Bräutigam des einen Fräuleins sagt nicht mit Unrecht: „Es gibt
doch Grenzen, gnädige Frau!“ Indeß, die Damen lassen sich aus
Liebe zu Hugo für Toni gewinnen, sie kommt mit Franzl ins Haus.
Im zweiten Akte ist dann „Bubi“ die Hauptperson, bis er am Akt¬
schluß (etwas Maeterlinkisch) stirbt.“ Nun aber wird die Situation für
Toni unhaltbar. Es zeigt sich, daß denn doch Hugo's Kind das Ar¬
gument gewesen, das stärker war als alles gesellschaftliche Herkommen.
Wie der Franzl fort ist, erscheint Toni völlig als Fremde und ihr
„Fehltritt“ als völlig unerträglich. Sie findet zwar noch immer zwei
Vertheidigerinen, aber diese dringen nicht mehr durch, obgleich sie
Dinge sagen, die so stark und wahr sind, wie der folgende Satz:
„Alles bewahren wir auf, was an ihn erinnert, Alles, was er
geliebt hat, das Nichtigste. Alles ist uns heilig — und gerade
das Wesen, das ihm durch Jahre mehr war als wir
Alle, jagen wir hinaus.“ Ach, wie sehr hat sie Recht! Aber
auch wie gründlich Unrecht! Wir leben nun einmal
in einer Welt, die gewisse Begriffe von Anständigkeit als eine un¬
verletzliche Konvention aufrecht erhält. Sie gelten als die Naturgesetze
der Gesellschaft. Möglich, daß sie sich einst ändern werden; für jetzt
sind sie unabänderlich und wer gegen sie ankämpft, geht unter. Der
Dichter kann also weder seiner Toni, noch der Familie Losatti Unrecht
geben, obgleich er auf Toni's Seite steht. Er muß die Welt hin¬
nehmen, wie sie ist, mit allen ihren selbstverständlichen Tragödien.
Das Schicksal Toni's, die in den Tod geht, ist echt tragisch, aber man
kann ihr nicht helfen. Wenigstens nicht, so lange Alles so zugespitzt
ist, wie im Theaterstück. Da führt der Dichter die Dinge in lücken¬
loser Ketie bis zum tragischen Schlusse. Es müßte aber nicht so sein.
Eines der Mädchen sagt am Schlusse: „Wir sind feig gewesen, wir
haben es nicht gewagt, sie so lieb zu haben, wie sie es verdient hat.
Gnaden haben wir ihr erwiesen, Gnaden — wir! Und hätten einfach
gut sein müssen!“ Das ist sehr wahr, aber auch gegen den Dichter.
Der Ton ist es, der die Musik macht. Der Zuschauer kann sich des
Gefühls nicht erwehren, daß man all das mit Toni auch in glimpf¬
licherer Weise hätte durchführen können. Er erwartet es sogar, nach
den vorherigen Entwicklungen. Aber Toni hat das Unglück gehabt,
auf Leute zu stoßen, die zwar gut sind — nicht schlimmer, als
andere —, aber nicht gut genug. Und an diesem Minus geht sie eigent¬
lich zugrunde. Der Dichter ist offenbar der Ueberzeugung, daß dieses
Minus die Regel in der Welt ist. Es ist zu viel Formmoral in der
Welt und zu wenig Wesensmoral. Daran gehen die Toni Webers
zugrunde, wie auf einem anderen Niveau die Marguerite Gautiers,
obgleich sie vor Gott, der auf's Herz sieht, rein sind. Die Darstellung
war ganz vorzüglich. Insbesondere dankt das Stück Herrn Hart¬
mann viel, der den Professor Losatti als liberal phrasirenden und
posirenden Formenmenschen meisterhaft spielte. Frau Schratt
war rührend als Toni. Die ergreifendste Szene war das lange
Sterben Hugo's im ersten Akt; man merkte, daß Schnitzler Arzt ist.