II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 22

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gesellschaftlichen Sphäre nicht Schaden anstifte. Damit die
Frühlingsrechte der Natur die sittliche Ordnung der Familie
nicht sprengen, sendet man ihn hinaus, irgendwohin, wo diese
sittliche Ordnung nicht allzu ängstlich respectirt werden
braucht. Dort soll er die Ungeduld seiner Triebe erfüllen,
die Neugierde seiner Instincte beschwichtigen. Wie er das
anfängt, danach wird er nicht gefragt, danach will
Er¬
man auch nicht fragen. Und als „Mensch von
ziehung“ hat er
sogar die Pflicht, darüber
zu
schweigen, wie er mit sich, mit den Wünschen seiner
Jugend und mit den Objecten dieser Wünsche fertig ge¬
worden. Nur daß er „fertig“ werde, verlangt man. Da
draußen darf er zügellos und ausschweifend, treulos, ver¬
logen, wortbrüchig sein, man wird ihn in seinen Kreisen
immer noch als einen tadellosen Menschen gelten lassen,
wenn er nur die Forderungen der Gesellschaft erfüllt. Er
clusive
mag sich mit Dirnen bezechen, in allerhand dunklen Ver¬
Porto.
ahlbar
gnügungen ergehen, wenn nur „das Haus rein“ bleibt, ist
Voraus
Alles erfüllt. Erst wenn er da draußen wider Erwarten
moralisch wird, wenn er seine „besseren Empfindungen“ da
ist d.
draußen an Jemanden hängt, erst wenn es ihm beifällt, da
tes de
draußen Wort zu halten, wird er in den Augen der Gesell¬ sin.
schaft unmoralisch und wortbrüchig. Der Conflict guter
Menschen, die sich da draußen gebunden, die nicht fertig
werden konnten, ist oft genug komisch behandelt worden. Für
die Verlassene ist die Gesellschaft von einer merkwürdigen
Fühllosigkeit, und das betrogene Mädchen mit dem Kind auf
dem Arme vor der Kirchenthür wird eher als eine pikante,
denn als eine tragische Störerin vornehmer Hochzeiten angesehen.
Nichts glaubt die Gesellschaft diesen Geschöpfen schuldig zu
sein. Sie sind dazu da, damit die Söhne aus guten Häusern
an ihnen sich austoben. In seinem neuen Schauspiele: „Das
Vermächtniß“ hat Arthur Schnitzler diese Feindseligkeit
der Legitimen gegen ein freies Glück meisterhaft geschildert.
Durch einen zwingenden Vorfall rückt er die Geliebte in
eine unabweisbare Nähe der Familie. Ein junger Mann
stürzt vom Pferde und bittet sterbend seine Eltern, sie
mögen sein uneheliches Kind und dessen Mutter in's Haus
nehmen. Solange das Kind lebt, finden die Hinterbliebenen
wenigstens äußerliche Beziehungen zur Geliebten des todten
Sohnes; als aber der Kleine auch stirbt, halten sie sich aller.
Pflichten für ledig und schicken die Arme fort. Daß sie die
Frau ihres Sohnes gewesen, daß sie Gatten und Kind ver¬
loren, daß sie die Unglücklichste ist, die es gibt, fühlt Keiner.
Allen ist sie nur Eine von denen, zu welchen man nicht
als E ster kommt und nicht als Letzter geht. Nur
die Schwester des verunglückten jungen Mannes spürt,
was für Unrecht hier begangen wird, und sagt, als man sie
fragt: „Ja, was hätten wir denn thun sollen?“
mit ab¬
schließender Klarheit: „Wir hätten einfach gut sein sollen.“
Schnitzler hat dieses Stück mit der Fülle warmen und wirk¬
lichen Lebens ausgefüllt, aus der er alle seine Gestalten
schöpft. Dieser Familienvater, der „anständige Mensch“ der
Phrasendrescher und Moralpathetiker gehört zu den leben¬
digsten Figuren, welche auf dem Theater existiren. Mit
dichterischer Feinheit zeichnete er das junge Mädchen, das
die Eltern für ihren Sohn schon in Bereitschaft hielten und
malt ihre Empfindungen gegen die plötzlich auftauchende Ge¬
liebte so recht aus der weiblichen Natur heraus. Die dich¬
terische Vollendung des Dialoges deckt so manche Stellen zu, an
welchen nur gesprochen und nicht gehandelt werden muß.
Man findet sich einem Stücke gegenüber, welches vielleicht
die Forderungen des Theaters nicht in landläufigem Sinne
erfüllt, das aber durch den Reichthum seiner Gedanken, die
Ehrlichkeit seiner Schilderungen und vor Allem durch die
innere Kraft seiner Begebenheiten eine tiefe und ganze
Wirkung übt. Den Mann der officiellen Moral spielte Herr
Hartmann mit einer subtilen Charakteristik, mit einer
solchen Meisterschaft der psychologischen Details, daß man
nach längerer Zeit wieder inne wurde, ein wie großer Schau¬
spieler er sein kann, wenn er in seinen natürlichen Grenzen
bleibt. Frau Hohensels als Franziska gab ein bezaubern¬
des Bild mädchenhafter Reinheit. Ihre Kunst erhob sich
im dritten Act zu einem Gipfel, den jetzt neben
ihr keine Andere erreicht. Auch Frau Schratt
in der Rolle der jungen Mutter fand echte und ergreifende
Töne. Besonders der Abgang im letzten Acte gelingt ihr.
Frau Schmitilein konnte wohl nicht so sehr hervor¬
treten, allein sie zeigte in der feinen Zeichnung der willen¬
losen Gatlin, was das Burgtheater an ihr besitzt. Sehr
rührend wirkte Fräulein Medelsky, die in Salontoilette
noch nie so gut gespielt hat. Fräulein Bleibtreu ließ
zwar das Persönliche ihrer Rolle fallen, aber sie gab eine
discrete, eindrucksvolle Raisonneuse dafür. Vollendet war der
Arzt des Herrn Römpler. Nur er versteht es, so kleine
Rollen so lebendig zu machen. Der dreizehnjährige Junge,
den Fräulein Metzl spielte, wirkte mit vieler Echtheit und
Herr Treßler brachte die Sterbeseene gegen seine eigene
Natur mit großer Stimmung heraus. Es war der erste
wirklich wienerische Abend seit der „Liebelei“, und der erste
glückliche in dieser Saison.
f. s.
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Ausschnitt aus:
Pester Journal
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Man schreibt uns aus Wien: Artbur
Schnitzlersetzt seine Tragödien des „Süßen Wiener
Mädets“ fort, und das Burgtheater brachte uns am
1. Dezember die neueste: „Das Vermächtniß“, die jedoch
durchaus nicht jene elementare Wirkung ausübte, welche
die „Liebelei“ seinerzeit so sensationell gestaltete. In
seinem Erstlingswerke zeigte uns Schnitzler das arme
Mädchen, das sich sorglos dem Geliebten hingibt, mit
ihm lebt, liebt und stirbt. In dem neuesten Stücke bringt
er dasselbe arme Mädchen auf die Bühne, nur daß es
den Geliebten überlebt und erst an der Kaltherzigkeit
seiner Verwandten stirbt. Der Geliebte fällt nämlich
nicht, von einer Duellkugel getroffen, mausetodt nieder,
sondern stürzt vom Pferde und hat vor dem Tode noch
Zeit, seinen Eltern das Versprechen abzunehmen, daß sie
seiner Geliebten und ihrem Kinde ein Heim bieten wer¬
den. Das thun sie auch, aber zum Theile nur wider¬
willig, und nachdem das Kind gestorben, wird das arme
Geschöpf, das ohnehin gebrochen ist an Leib und Seele,
in roher Weise hinausgewiesen und zum Selbstmord
getrieben. Daß Toni Weber dem verstorbenen jungen
Manne ihr ganzes Leben, ihre Familie, ihre Ehre ge¬
opfert und ein Glück geschenkt hat, das er zuhause nicht
finden konnte, wird nicht in Betracht gezogen: man
sieht nur die Gefallene in ihr und stößt sie aus.
Das Stück hat scharfe Pointen gegen die verlogene
Moral heuchlerischer Tugendverfechter und führt nament¬
lich in der Gestalt eines pseudoliberalen Professors und
Abgeordneten, dem Alles Phrase ist und der keinen
Funken Gefühl besitzt — in dem Stücke ist er der
Vater des verunglückten jungen Mannes —, einen weit¬
verbreiteten, lebenswahren Typus der Gesellschaftsretter
Für 50 Zeil
und heuchlerischen Gefühlsmenschen ins Treffen, wie er
100
schon von Turgenjeff an den Pranger gestellt wurde, tei###e
200
aber nicht oft genug gezeigt werden kann. Im Burg=Porio.
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500
Voraus
theater erwärmte man sich merkwürdigerweise für die
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Tendenz das Stückes und übersah mit Nachsicht alle
Im
Mängel des Werkes, die ausgeklügelte Handlung, den
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quälerischen Charakter der Vorgänge, denen die Steige¬
Abonnement
tes den
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rung fehlt und die an einer bedenklichen Monotonie
rn.
leiden, da sie ja in jedem Akte je einen Todesfall her¬
beiführen. Gut gemacht ist eigentlich nur der erste Auf¬
zug, alles Andere ist schwächlich und wurde von der
Darstellung wenig unterstützt. Immerhin hatten die
Damen Schratt (Toni Weber) und Hohenfels
(Franziska) einige ergreifende Momente. Sehr inter¬
essirte Herr Hartmann in der Rolle des Professors.
Er spielte ihn recht charakteristisch und dürfte wohl auch
in der Folge noch manche Erfolge finden, wenn er sich
entschließt, in ein älteres Fach überzugehen.
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