II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 21

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10. Das Vernaechtnis
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Ausschnitt
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„OBSERVER“
Nr. 52
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Filiale in Budapest: „Figyelö“, VIII. Josefsring 31 a. —
Ausschnitt aus: Wiener Allgemeine Zeitung
vo
Theater, Kunst und Literatur.
Wien, 3. December.
Burgtheater.
(„Das Vermächtnig.“ Schauspiel in drei Aufzügen von
Arthur Schnitzler. — Zum erstenmale am 30. November 1898.)
Es gehört nun einmal mit zur heutigen Gesellschafts¬
ordnung, daß der bürgerliche junge Mann ein Doppelleben
führe. Eines im Kreise seiner Familie, wo die Moral ihn
lenkt, wo er eine „Stütze“ werden soll, und ein anderes, da
draußen — irgendwo. Da draußen ist ihm die Freiheit
gegönnt, damit er zuhause, will sagen in seiner eigenen
gesellschaftlichen Sphäre nicht Schaden anstifte. Damit die
Frühlingsrechte der Natur die sittliche Ordnung der Familie
nicht sprengen, sendet man ihn hinaus, irgendwohin, wo diese
sittliche Ordnung nicht allzu ängstlich respectirt werden
braucht. Dort soll er die Ungeduld seiner Triebe erfüllen,
die Neugierde seiner Instincte beschwichtigen. Wie er das
anfängt, danach wird er nicht gefragt, danach will
man auch nicht fragen. Und als „Mensch von Er¬
ziehung“ hat er sogar die Pflicht, darüber zu
schweigen, wie er mit sich, mit den Wünschen seiner
Jugend und mit den Objecten dieser Wünsche fertig ge¬
worden. Nur daß er „fertig“ werde, verlangt man. Da
draußen darf er zügellos und ausschweifend, treulos, ver¬
logen, wortbrüchig sein, man wird ihn in seinen Kreisen
immer noch als einen tadellosen Menschen gelten lassen,
Für
wenn er nur die Forderungen der Gesellschaft erfüllt. Er
kclusive
mag sich mit Dirnen bezechen, in allerhand dunklen Ver- Porto.
gnügungen ergehen, wenn nur „das Haus rein“ bleibt, ist jahlbar
Voraus
„ 1 Alles erfüllt. Erst wenn er da draußen wider Erwarten
moralisch wird, wenn er seine „besseren Empfindungen“ da
ist
draußen an Jemanden hängt, erst wenn es ihm beifällt, da ### # den
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draußen Wort zu halten, wird er in den Augen der Gesell¬ rn.
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schaft unmoralisch und wortbrüchig. Der Conflict guter
Menschen, die sich da draußen gebunden, die nicht fertig
werden konnten, ist oft genug komisch behandelt worden. Für
die Verlassene ist die Gesellschaft von einer merkwürdigen
Fühllosigkeit, und das betrogene Mädchen mit dem Kind auf
dem Arme vor der Kirchenthür wird eher als eine pikante,
denn als eine tragische Störerin vornehmer Hochzeiten angesehen.
Nichts glaubt die Gesellschaft diesen Geschöpfen schuldig zu
sein. Sie sind dazu da, damit die Söhne aus guten Häusern
an ihnen sich austoben. In seinem neuen Schauspiele: „Das
Vermächtniß“ hat Arthur Schnitzler diese Feindseligkeit
der Legitimen gegen ein freies Glück meisterhaft geschildert.
Durch einen zwingenden Vorfall rückt er die Geliebte in
eine unabweisbare Nähe der Familie. Ein junger Mann
stürzt vom Pferde und bittet sterbend seine Eltern, sie
mögen sein uneheliches Kind und dessen Mutter in's Haus
nehmen. Solange das Kind lebt, finden die Hinterbliebenen
wenigstens äußerliche Beziehungen zur Geliebten des todten
Sohnes; als aber der Kleine auch stirbt, halten sie sich aller
Pflichten für ledig und schicken die Arme fort. Daß sie die
Frau ihres Sohnes gewesen, daß sie Gatten und Kind ver¬
loren, daß sie die Unglücklichste ist, die es gibt, fühlt Keiner.
Allen ist sie nur Eine von denen, zu welchen man nicht
als Erster kommt und nicht als Letzter geht. Nur
die Schwester des verunglückten jungen Mannes spürt,
was für Unrecht hier begangen wird, und sagt, als man sie
M
— mit ab¬
fragt: „Ja, was hätten wir denn thun sollen?“
schließender Klarheit: „Wir hätten einfach gut sein sollen.“
Schnitzler hat dieses Stück mit der Fülle warmen und wirk¬
lichen Lebens ausgefüllt, aus der er alle seine Gestalten
schöpft. Dieser Familienvater, der „anständige Mensch“ der
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