II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 59

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10. Das Vernaechtnis
fühlte. Hier galt es entweder so — oder so! Entweder
otherrlichkeit, die, statt zu arbeiten, sich
hatte Toni Weber ein Recht, in der Familie Losatti als
und die Frucht ihrer geschlechtlichen Liebe
gleichwerthiges Glied behandelt zu werden, dann hatte
Andmal der Vaterlosigkeit in die Welt
die Familie die Pflicht, alle Rücksichten auf die Gesell¬
man unehelichen Kindern noch immer
schaft über Bord zu werfen. Oder aber: es hatte die
Mißachtung und Zurücksetzung auf
Gesellschaft mit ihrer instinktiven Scheu vor der Halb¬
Freuen pflegt. Dafür aber werden die
welt Recht, dann war es ganz und gar überflüssig, uns
t und Alle, die ihre Schwäche theilen,
noch einmal zu sagen, daß die Bourgoisie verlogen ist
hen Verkehrs mit einer Maitresse zu
und daß nur im Bezirke der Halbwelt die wahre Sitt¬
liegt die tendenziöse Einseitigkeit der
lichkeit wohnt.
Anklage. Ein ernster und gerechter
Man mag den Fall Toni Weber drehen und wenden,
wird offen bekennen, was ihm schwarz
wie man will; es spricht eine importirte Moral aus
Eint, da und dort. Schnitzler aber druckt
feindlichen Gewalten verstohlen vorbei
seiner Behandlung und Nutzanwendung zu uns. Schnitzler
gilt heute im Deutschen Reiche als der ernsteste Wiener
kem Augenblick, wo der Widerstreit der
Sittenschilderer, und deshalb muß man vor Allem fest¬
nach einer endgiltigen Entscheidung
stellen, daß das moralische Gefühl, aus dem heraus er
n des Anstoßes in der schönen blauen
seine Probleme gestaltet, nicht das unserige ist. Seine
den, um die Lebenden in's Unrecht zu
in erbärmlich unaufrichtiger Eskamoteur¬
Quelle ist nicht in Wien, sondern in Paris zu suchen.
Indeß Moral hin, Moral her. Kein künstlerisch fühlender
die freie Liebe eintritt, muß auch den
Mensch wird von einem Kunstwerke eine unmittelbar
bis in ihre letzten Folgen hinein
moralisirende Wirkung verlangen. Im Gegentheile,
theidigen. Wer da beschönigt, wird zum
soll im Sinne Richard Wagner's nur „durch Veredlung
rräth damit nur, daß sie nicht zu ver¬
des Geschmackes auf die Hebung der Sitten wirken“ Je
Was soll es heißen, wenn Schnitzler
dem er die gekränktestadtherrlichkeit
mehr es dem Künstler gelingt, seine Ideen und
Empfindungen in Anschauung umzusetzen, desto tieser
eise aus dem Wege geräumt hat, der
wird auch die ethische Wirkung auf den Empfangenden
uses Worte in den Mund legt, wie:
sein. Hat nun Schnitzler seine Ideen und Empfindungen
enschen so glücklich macht, kann nicht die
in dramatische Anschaulichkeit umgesetzt? Mit Nichten.
Hier handelt es sich doch gar nicht mehr
oder das Glück. Wer weiß denn übrigens
Nicht einmal von einem gut gemachten Theaterstücke kann
man reden, geschweige denn von einem Drama. Dispute,
osatti wirklich so glücklich war in seinem
nichts als Dispute füllen die drei Akte, und wenn der
Toni Weber. Er konnte eben so gut das
deshalb fortgesponnen haben, weil er
Zufall nicht ein gar so pünktlicher Schnitter wäre,
ebendige Folge dazu moralisch verpflichtet] würden die Leute schon im zweiten Akte nichts mehr zu
disputiren haben. Wenn wenigstens die süße Vorstadt¬
herrlichkeit nur einige persönliche Züge aufweisen würde,
vielleicht gelänge es einem doch, für ihr Martyrium ein
Bischen Theilnahme aufzubringen. Aber auch sie ist so
farblos und unpersonlich, wie der Kosffizient eines
Rechenexempels. Sie weint über den Tod ihres
Geliebten, sie weint über den Tod ihres Kindes, sie
weint, als man ihr Kost und Wohnung kündigt, trotzdem
sie sich so voll Takt und Rücksicht in der Familie ihres
Liebhabers benommen hat, und sie weint, bevor sie in's
Wasser geht. Ein einziges Mal bäumt sich die beleidigte
Engelhaftigkeit in ihr auf: „Hab' ich ihn denn weniger
geliebt, als ihn eine Andere geliebt hätte? Habe ich ihn
weniger glücklich gemacht, als eine Andere?“ Und als
man ihr verbietet, sich mit der Tochter des Hauses zu
vergleichen, jammert sie: „Ja, warum denn? Bin ich
vielleicht etwas Schlechteres als sie?“ Das ist Alles.
Aus dem Leben gegriffen ist nur eine einzige Gestalt:
das Oberhaupt der Familie, ein liberaler Wohlanstän¬
digkeitsheld voll Pose und Phrase. Aber auch er steht
auf tendenziösem Boden, da er neben einem ränkevollen
Bösewicht allein die bürgerliche Moral zu verkreten hat.
So schrumpft die ganze Arbeit Schnitzler's zu einer un¬
fruchtbaren Tendenzmacherei zusammen. Wenn ich die
Wahl zwischen Schnitzler und Dumas habe, dann muß
ich offen gestehen, daß ich nicht einen Augenblick zögere,
mich für Dumas zu entscheiden. Der täuscht mir wenig¬
stens keine Talmi=Wiener vor, de weiß ich doch gleich,
ich habe es mit Franzosen zu ihnn und kann mich, un¬
bekümmert um jeden tieferen poetischen Sinn, an ihrer
Fähigkeit, gefällig=anregende Konversation zu machen,
immerhin ein Bischen künstlerisch erfreuen. Th. A.