II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 69


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10. Das Vernaechtnis
Burgtheater. #
(„Das Vermächtniß“, Schauspiel in 3 Akten von Arthur
Schnitzler. Erstaufführung am 30. November 1898).
Eine neue und gefährliche Kunst kommt jetzt auf
unsere Bühnen. Seit Langem sind die alten Menschen und
die alte Moral aus den modernen Dramen verschwunden,
nicht mehr Charaktertypen und sittliche Eigenschaften stehen
gegeneinander, sondern Individualitäten und Seelenkräfte.
Und die Weltordnung, welche ehedem das Gleichgewicht des
dramatischen Vorganges regulirte, ist — je nach der Größe
des Spielraumes, den ein Stoff fordert — von der mecha¬
nischen Wirkung der Gesellschaftszustände, von der Schwer¬
kraft und Trägheit der geistigen Disposition gewisser socia¬
ler Gruppen, von den freien Gesetzen, die großen Individu¬
alitäten innewohnen und von so manchem anderen Regula¬
tiv abgelöst worden. Aber das Drama an sich ist geblieben;
wenigstens als Postultat. Die Forderung der einheitlichen,
nach bestimmten Gesetzen bis zu gewissen Höhepunkten ge¬
führten (inneren oder äußeren) Handlung, die dann, ihren
eigenen logischen Consequenzen folgend, sich dem nothwendi¬
gen Abschluß zu entwickelt, ist noch nicht ernstlich ange¬
tastet worden. Die Geschichte eines Kampfes war immer
das Drama, des Kampfes einer Moral mit einer anderen,
einer Individualität mit ihrem Schicksal oder mit ihrem
Milien, eines Principes mit seinen natürlichen Widerständen;
und der Kampf mußte regelrecht entwickelt, in seinen Haupt¬
wendepunkten deutlich gezeigt, und zu seinem innerlich noth¬
wendigen Abschluß — wenigstens in perspectivischen Aus¬
der bildschöne, stolze, starke, heitere junge Mensch, der Sohn etwas unbestimmten Mam
blicken — geführt werden.
edlen und feinen Tante, di
des Hauses, von allen geliebt und bewundert, überstrahlt
noch zu deren Tochter Agn
Nun scheint auch diese Urform der dramatischen Struc¬
diese spärlichen Schatten mit der großen Freude, die er, der
einmal zu Hugos Schwe
tur, die bisher unbestrittene Geltung hatte, langsam aufge¬
Liebling, der Familie bringt. Man wird fast besorgt um
ihres freien Denkens und
löst zu werden. Die richtenden Linien verschieben und ver¬
ihn, so tadellos, so unfehlbar erscheint ei, nach allem, was
denen Herzens am nächsten
wischen sich, Anheben und Ausklingen sind nicht desselben
von ihm gesprochen wird.
peinliche Stimmung um di
Schicksals, das Ereigniß ist nichts mehr, die Stimmung alles.
Liebe, Liebe, nichts als Liebe und Verehrung um ihn;
Kind in diesem Bürgerhein
Die Stimmung — die lyrischen Qualitäten sind es ja im¬
da muß das Schicksal einen schweren und plöglichen Schlag
cher sich alle die einzelnen
mer, welche bestehende Kunstformen zuerst am wirksamsten
führen, um ihn zu treffen. Und ein Wagen rollt vor das
menen äußern. Frischer, fr#
angreifen und aus den gewohnten Grenzen rücken. Der
Haus, und in ihm kommt der Tod gefahren. Den Hugo
diese fremde Güte, die nich
werthvollen Subjectivität wird schließlich alles erlaubt, und
1 bringen sie, zum Sterben verletzt; er ist beim Ausreiten
immer unsicher nach ihren
wenn uns einer nur köstliche Empfindungen wirksam mitzu¬
vom Pferd gefallen. Warum war er auch so jung und
doch verfehlt, bringt Besor
theilen vermag, so fragen wir schon nicht mehr darnach, was
schön und geliebt? Man sieht nun die Familie die erst noch
er uns im Uebrigen sagen wollte oder sollte.
dende, ohne jeden Grund
so heiter und glücklich war, trauern und düster und ver¬
berückend aus jeder Scene
So wird, wenn noch einige Erfolge Strebenden den
grämt werden, und langsam zerfalen ohne diesen einzigen
das Kind, auf das sich die
Weg zeigen und die Schauspieler, die ohnedies schon ihr
Menschen, der ihr Mittelpunkt war — ein schweres und
nen Vater mit Ungestüm w
Spielen auf das Seelische wenden lernen, weiterhin zuhilfe
seltsames Familiendrama. Aber nein, bevor der junge Mann
seltsames Schicksal voll eig
kommen, bald die selbstständige, vom Dramatischen losgelöste
stirbt, beichtet er seiner Mutter von seiner Geliebten und
Das Kind erlebt kein
Stimmungsdichtung ein sicheres Reich in den Theatern
seinem Kind. Die Qualen des Menschen, der aus der
äußere Begründung, ohne
haben; man wird mit großem Genuß auf den Bühnen
Welt geht und sein Liebstes ohne Schutz zurücklassen muß,
gestorben. Und was nun
stille gute Novellen abspielen sehen, in denen nicht mehr
fallen dem Zuschauer mit aller erschütternden Wucht auf die
deutend und allzu selbstver
Menschen und Schicksale, sondern der feinste und intensivste
Seele. Aber für die Hilflosen wird gesorgt; Hugos Mutter
Ausdruck von Zuständen in mehr oder weniger willkür¬
Familie nun gar nichts an
ist edel und gut, und willigt ein, die Beiden in die Familie
Geliebte des todten Hugo,
lichem Wechsel das eigentlich Wirkende sein und die Seele
aufzunehmen. Auch der Vater läßt sich überreden; und die
lich denkenden Elementen
des Zuschauers mit dem Besten von der Seele des Dichters
Schwester lechzt mit ihrem vollen starken Herzen nur darnach,
füllen wird.
ganz angehören konnte, vol
alles um sich zu haben und zu behalten, was an das Le¬
herzige Frau, die den Hu#
Nur so ist die tiefe Wirkung und der schöne Erfolg
ben dieses Einzigen erinnerte. Die Fremden, die Hugos Fa¬
glückliche Toni aufnehmen;
zu erklären, die Schnitzlers Schauspiel „Das Ver¬
milie waren, neben und über seiner eigenen, werden in das
gen, die den Todten noch
mächtniß“ gehabt hat. Das große dramatische Schicksal
Heim seiner Eltern aufgenommen.
fortgeliebt hat, die nun in
ist da nicht mehr zu sehen; ergriffen hört man nur seinen
Was nun? Ein Conflict zwischen den neuen und den
verhaßte glücklichere Rivali
Athem. Was geschieht, ist ohne zwingendes inneres Gesetz, ohne
alten Gliedern dieser Familie? Er ist absolut nicht vorbe¬
wahrscheinlich in den Tod.
anschauliche Nothwendigkeit. Aber wenn das Ereigniß kommt
reitet und wäre ein ganz voraussetzungsloser Beginn des
Das würde nun,
und vorüberzieht, in seine dunklen unfaßbaren Schatten ge¬
Dramas im zweiten Acte; denn Toni Weber die Geliebte
Persönlichkeit zeigt und ihr
hüllt, dann fühlt man die mächtige Ergriffenheit, die kein
des Verstorbenen ist uns bisher in keiner Weise in ihrem
ganz passiv verhält, nicht
Urtheil mehr zuläßt,
und jede solche Scene wird zu
persönlichen Wesen gezeigt worden. Sie ist blos ein Princip:
irgend eine Nachricht ein
einem besonderen Drame. In unzählige Perspectiven, die oft
das der freien Liebe eines freien Mannes. Dennoch wäre
irgend einen gleichgiltigen
weit auseinanderliegen verliert sich während des Vorganges
der Kampf dieses Princips mit den alten und feindseligen
der Stimmung dieses letzte
schon der Blick. Alle Vorzüge und viele Fehler des Stückes
Begriffen, die in dieser streng bürgerlichen Familie noch mit
liegen da.
salsahnung und alle furcht
gespensterhafter Macht alles Leben in ihrem Bann halten
den Schwachen geschieht,
Erst sieht man in eine gute und wohlgeordnete Wie¬
müssen, das einzig Dramatische, das sich nun entwickeln
glücklich werden. Wenn d
ner Bürgerfamilie. Die Menschen sind so gut, so froh,
könnte. Aber es kommt nicht. Nie gewinnt dieses Weib sei
längst verschwunden ist, kon
warm — es kann ihnen nichts Böses widerfahren. Nur die
es nun als Individualität oder als Verkörperung eines Prin¬
genreden der Zurückgebliebe
Schwägerin der Hausfrau, eine Witwe, die noch nicht altert,
cipes, irgend eine wirkende Kraft, die sich anspannen, käm¬
bare Drama heraus. Die
eine jener feinen Seelen, die tiefes Leid zu Erkennern
pfen und zerscheitern könnte, wie es im Drama verlangt
schleudert es dem ekelhaft
macht, spricht von vergangenen schmerzvollen Tagen. Und die
wird. Sie leidet nur. Zu keiner der verschiedenen Personen
tigam, in einem großen A#
sanfte zarte Tochter des Hauses soll einen mühselig empor¬
in der Familie hat sie ein ausgesprochenes Verhältniß.
sicht — eine Scene, die z
gekommenen Arzt heirathen, einen gehässigen Moral=Plebejer
Nicht zu dem in weitschweifigen Phrasen Verurtheilslosigkeit
mit dem sie keinerlei innere Verwandtschaft hat. Aber Hugo und Liberalität posirenden Papa, nicht zu der weichen und was das Stück an eigen