II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 72

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10. Das Vermaechtnis
Der wahre Dichter ist objectiv, der Tendenzklitterer Gesellschaft zu Schanden werden mußte; end
Burgtheater. Fedrn
färbt sich die Dinge, wie er sie braucht. Gesetzt, die Mutter freiwillig in den Tod, dieselbe Mut#
(„Das Vermächtniß.“ Schauspiel in drei Acten von Artbur
Schnitzler.— Erste Aufführung am 30. November 1898.)
sogenannte Gesellschaft sei pauschaliter als wahre den Verlust der beiden theuersten Wesen übe
Schwefelbande zu betrachten: folgt daraus wirklich, daß aber just die schlechte Behandlung der bürge#
„Jung=Wien“ fängt an, langweilig zu werden. Die
man der verehrten Gegenseite das Roth der Gesundheit
sentimentale Grisetten=Lyrik, die sich als Dramatik aus¬
schaft nicht verwinden kann. Eine Tragödi#
auf die Wange schminken muß? Wenn man Herrn
flüssigen Creppverschwendung! Schwarze Klei
gibt, weil sie in dialogische Form gebracht ist, will nicht
Schnitzler glauben dürfte, sitzen die „süßen Mädels“ Bühne, schwarze Gedanken im Publicum, schn
mehr ziehen, die neue Moral, die sich gegen die bürger¬
liche Ordnung kokett in Fechterpositur stellt, will auch ruhig und ahnungslos hinter den Geranienstöcken ihrer bei dem Kritiker! Wie, wenn das wilde
Fenster und nähen oder flicken so lange, bis ein capita¬
nicht blos ein Kind, sondern vier Kinder
vorurtheilslosen Gemüthern nicht mehr behagen. Nur die
listisch wohlfundirter Bösewicht des Weges kommt und
ganz „Grünen“, die Alles bejubeln, was sich als radical
der junge Lebemann seiner Familie ein fün
aufspielt, gehen noch auf den Leim, wenn ihnen eine sich auf seine Beute stürzt. Mit Verlaub: so ro¬
hinterlassen hätte! Dann hätte Herr Schnitzl
saftige Phrase versetzt wird; den Anderen istmantisch geht's in der Regel doch nicht zu.
sechs Acte mit sechs Sterbefällen geschrieben,
Es gibt unter den Menschen Falken und Tauben;
die beiden Raisonneure seines Stückes immer
zumuthe, als ob unsere „Vorkämpfer“ in ihrer einmal
angenommenen Pose erstarrt seien und gar nicht mehr aber so einfach ornithologisch ist das Leben nicht ein¬
veränderte Situation beleuchtet, immer wiede
gerichtet, daß es nur Falken und Tauben gibt. Anderes
natürlich stehen könnten.
mutationen des arithmetischen Problems gef#
Die Dramatik Arthur Schnitzler's gleicht einem Geflügel flattert auch herum, und zwar auf beiden wäre das „Mutter=Mädel“, ratenweise
„Thema mit Variationen“. „Anatol“ und das Seiten. Das weiß und fühlt der Dichter, der — im
worden, von einer Gesellschaft, die ihre Gra
„süße Mädel“
der piatokratische Müßiggänger und strengsten Sinne des Wortes — ein Seher ist: der der Reducirung des illegitimen Nachwuchses
die arme Vorstadtnymphe, haben eine „Liebelei“ ihr Macher will es nicht wissen und nicht fühlen, weil die uns, daß sich der verblichene Cavallerist mit
gular begnügt hat!
Verhältniß dient als Bast“ für die unbedingt nöthige ruhige Klarheit seine künstlichen Constructionen stört.
Reformirung einer Gesellschaft, die einzig und allein Das Aeußerste, wozu sich seine dramatische Geometrie
Die umständliche Replik und Duplik
unter dem Dictate einer heuchlerischen Convenienz steht entschließt, ist eine falsche Schattenlehre: die gesellschaft¬
letzten Acte — der erste ist besser gearbeit
und ihre innere Unsittlichkeit hinter der Maske einer liche Ordnung capitulirt vor dem neuen Geiste und
seine eigene Stimmung — gipfelt in der Bra
ostentativ zur Schau getragenen Ehrbarkeit ver= plaidirt selbst für eine laxe Auffassung, die ihr den
jungen Mädchens, das nicht zu den Gefallen
ist der Vertreter einer Kaste, Garaus macht; das „süße Mädel“ aber hat eine Sehn¬
birgt. „Anatol“
zu den Tugendprotzen der gegeißelten Gesel
welche in ihrer egoistischen Vergnügungssucht rücksichtslos sucht nach bürgerlicher Ehrbarkeit und möchte die Zigeuner¬
aber dabei die unwahrscheinliche Liebensw
Existenzen zertritt und die Armen ihrer Pein überläßt, wirthschaft mit dem häuslichen Herde vertauschen.
sitzt, sich für die Moral der Gegenseite, d
In seinem „Vermächtniß“ thut der Autor das
nachdem sie schuldig geworden sind, „schuldig“ im Sinne
die Moral des Herrn Schnitzler zu erhit
der antiquirten Moral; das „süße Mädel“ zählt — im
Möglichste, um das arme, brave Opferlamm zum Gegen¬
Mädchen schreit, im Innersten empört, die
Sinne derselben antiquirten Moral — zu den „Ge= stande des tiefsten Mitleids zu machen; er zieht einen
Stückes ihren Angehörigen ins Gesicht und
fallenen“ und muß daher — schon nach dem Gesetze des Trauerflor über sein ganzes Stück und etablirt sich
den Worten: „Was einen guten Mann so gl
Widerspruches — von der neuen Moral rehabilitirt förmlich als Conductansager. So viel Acte, so viel
(wie die „freie Liebe'), das kann nicht die
werden. Um diese beiden Gestalten dreht sich die Muse Todesfälle. Zuerst stirbt der Liebhaber, der in vier langen] Ich bezweifle zwar, daß das nächste beste ju
des Herrn Schnitzler in engem Cirkeltanz, und ihre Jahren keine Zeit gesunden hat, seine Maitresse zu hinreichend legitimirt ist, um zu entscheiden,
Lebensaufgabe besteht darin, aus Schwarz Weiß und aus legitimiren, aber sie und das Kind gnädigst der Familie sei und was nicht, ja es will mir sogar
Weiß Schwarz zu machen.
testirt; dann stirbt das Kind, an dem die Barbarei der selbst Herr Arthur Schnitzler in dieser