II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 101

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10. Das Vernaechtnis
davon mehr.
G. Z. Im Deutschen Theater wurde heute die Première
von Arthur Schnitzlers neuestem Drama „Das Vermächtniß“
mit starkem, am Schlusse stürmischem Beifall aufgenommen. Es ist
nicht gut möglich, über das Stück mit kurzen Worten abschließend zu
urtheilen. Tendenziös in dem Sinne, daß die ganze Aufmerksamkeit
des Verfassers auf die Durchführung einer bestimmten These gerichtet
ist, und oftmals konstruirt in seinen szenischen Voraussetzungen, ist
das Stück doch auch wieder voll warmen echten Lebens und entbält
Figuren von packender Wahrheit. In dem heiligen Eifer aber, mit
dem er für sein Thema eintritt, vergißt der Verfasser doch zu sehr,
daß das Wesen des Dramas Handlung ist und daß Debatten über
ethische Fragen nicht die Stelle einer solchen einnehmen können.
Wein# erste Eisenbahnfahrt in Chine
Hause mit ostentativem Beifall bedacht. Das Gegenstück zu dem Pro=1c
u. Kunst, Wissenschaft und Leben.
fessor ist sein Schwiegersohn, der Arzt Dr. Schmidt, ein kalter Egoistjg
von niedrigster Denkart bei beträchtlicher äußerlicher Correctheit. Auch
*) [Berliner Theater.] Im Deutschen Theater wurde am 8. ds.
diese Rolle fand eine vortreffliche Wiedergabe durch Oskar Sauer. Die 1f1
zum ersten Male „Das Vermächtnis“ Schauspiel in drei Acten von
Hauptsigur spielte Else Lehmann mit einer Kunst des Ausdrucks, wie
Arthur Schnitzlest aufgeführt. Schngter ist miediefer seiner jüngsten
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sie dieser begabten Darstellerin ganz besonders eigen ist. Die Rolle
dramatischen Arbeit seinem bisherigen Gedankenkreise treu geblieben; er
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weist kaum eine Spur von selbstthätigem Eingreifen in die Handlung
holt sich auch diesmal seinen Conflict aus dem Gebiete der freien Liebe,
auf, sie ist rein passiv, und bietet somit für die Darstellung keine leichte
aber er tritt insofern als ein anderer vor uns, als er seinen Stoff in
Aufgabe, da die Gefahr der Eintönigkeit oder Weinerlichkeit nahe liegt.
den Dienst einer lehrhaften Idee gestellt hat. Die Tendenz ist dem Stück
Aber Frau Lehmann gestaltete diese Figur des Leidens mit einer sos
einesteils dadurch zugute gekommen, daß die Charakterzeichnung erheb¬
schlichten und doch so ergreifenden Einfachheit aus, daß sie bis zum
lich tiefer geworden ist als in den andern Arbeiten Schnitzlers, nament¬
letzten Moment des tiefsten Eindrucks auf ihre Zuhörer sicher war.
lich bei den satirischen Figuren des Stückes, anderseits wird die Hand¬
Entsprechend diesen ausgezeichneten Einzelleistungen war die Gesamt¬
lung durch die leyrhaft zugespitzten Auseinandersetzungen auf Kosten der
darstellung und das Zusammenspiel, das in diesem Hause auf einer
dramatischen Wirkung auseinandergereckt. Dazu kommt, daß die Haupt¬
künstlerischen Höhe steht, wie wohl in keinem andern deutschen Theater.
— sigur des Stückes nicht als handelnde, sondern als leidende auftritt, und
5 [Nietzsche=Vorträge.] Dr. Horneffer hielt gestern im Vor¬
die Gefahren, die in dieser Form des dramatischen Aufbaues liegen,
tragssaale der ell-
hat der Verfasser nicht vollkommen aus dem Wege räumen können. Im
Mittelpunet der Handlung steht ein junges Mädchen, Toni Weber, und
ihr Kind. Sie ist eines von den Geschöpfen, die sich ihr Glück nur mit
blutendem Herzen erkaufen können. Sie, die ohne die sorgende Hand
der Mutter aufgewachsen ist, lernt den jungen Losatti, den Sohn eines
Nationalökonomen und Politikers, kennen; sie muß von Hause weg, als
sie Mutter geworden, und wird vom Vater gänzlich verstoßen, da sie
sich nicht von dem Kinde trennen kann. Sie hat also nur den Geliebten,
an dem sie hängt und der auch ihr sein ganzes Herz geschenkt hat. Das
ist die Vorgeschichte des Stückes. Der erste Act, der außerordentlich
spannend aufgebaut ist, verweist zunächst auf den jungen Losatti; wir
erfahren, wie alle, die m ihn herum sind, an ihm hängen wegen seines
Frohsinns und seines guten Herzens. Er, der so von allen erwartet
wird und nur einen kurzen Spazirritt in den Prater machen wollte,
wird tödlich verletzt nach Hause gebracht; er ist mit dem Pferde gestürzt.
Das letzte, was er den Eltern aus Herz legt, sein Vermächtnis, ist die
Sorge um sein heimliches Weib und sein Kind. Im zweiten Act finden
wir die beiden im Hause des Professors Losatti; das Kind ist der Ab¬
gott aller und von ihm aus geht auch auf die Mutter ein Teil der
Zärtlichkeit über. Da stirbt auch das Kind, von Anfang an ein zartes
Wesen, und die Mutter steht nun allein im Hause der Eltern des Ge¬
liebten. Sie will sich nicht trennen; sie hat nun gar nichts mehr als
Idiese Leute, mit denen sie wenigstens von ihren Lieben reden kann.
Aber das ist ihr nicht beschieden. Haben sich schon vor dem Tode des
Kindes für das Haus des Professors gesellschaftliche Schwierigkeiten
ergeben, so ist man nun um so schneller bereit, das lästige Vermächtnis
abzustreifen, versorgt soll sie werden, aber sie muß fort aus dem Fa¬
milienkreise. Sie geht in den Tod. Nur eine sträubt sich gegen diese
Ausstoßung, das ist die Tochter des Professors, und ihre strafenden
Worte über das lieblose Thun ihres Vaters und ihres Verlobten bilden
den versöhnenden Abschluß des Ganzen. Diese beiden letzten Personen
sind die satirischen Figuren des Stückes und, wie eingangs schon an¬
gedemet, meisterhaft charakterisirt. Schnitzler ist hinsichtlich dieser beiden
bei Ibsen in die Schule gegangen. Namentlich der Professor ist eine
volle Figur. Ein Alltagsmensch mit den Allüren einer Individualität,
ein ganz hervorragendes Wiener Portrait; kokettirend mit seiner Libera¬
lität, scheinbar alles verzeihend mit der Nachsicht des großen Mannes,
dabei von allen andern so sch echt wie möglich denkend, selbst von denen,
die ihm am nächsten stehen, erhaben über Vorurteile, aber eitel und selbst¬
zufrieden und ängstlich auf seine gesellschaftliche Bedeutung bedacht. Das
ist ein Typus, wie er schärfer umrissen kaum gedacht werden kann.
Durch eine große Anzahl von kleinen Zügen vervollständigt der Dichter
dieses Charakterbild, das in Emanuel Reicher eine unübertreffliche
Wiedergabe fand. Dieser große Künstler, der in letzter Zeit so wenig
seiner würdige Aufgaben gefunden hat, hat in dieser Aufgabe wieder
sein ganzes Können offenbart und wurde dementsprechend von dem