II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 158

zners einen gewissen Ausgleich. Die Haustochter Franziska
die zwar auch, nach anfänglich überschwänglichen Liebeserklärungen an
Tom Weber, von der allgemeinen Gefühlserkaltung mit ergrissen
werden ist. spielt sich nun plötzlich wieder als der Anwalt der ge¬
marterten Unschuld auf; sie hält ihrer Familie und ihrem Bräntigam
seine dennernde Philippika, zeiht sich selbst der greßen Sünde der
Lieblosigkeit und weist, zum wirksamen Schlußeffelt des Ganzen!
wie zur Entlastung ihrer reuebeladenen Seele, ihrem angenehmen
Herrn Bräntigam die Thür, was man nur schon längst von ihr hätte
Verwarten sollen.
Ner 5
Was nun den inneren Werth dieser dramatischen Darstellung
10 augeht, so erfährt er eine Herabwinderung durch die ihr anbaftende
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Tendenz, welche die natürliche Entwickelung der Dinge beeinflußt
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und gleich mit dem ersten Akt künstlich kenstwirte Sitnationen“
" 100 schafft, welche dem Verfasser zum Beweise seiner Thesen dienen sollen.
Noch schwerer wiegen aber die Febler in der feelischen Schilderung,
Abonn
die namentlich an den beiden, für die Entwickelung des Stückes
Abonn
wichtigsten Personen, auffallen. Haist zunächst Hugo Lesatti, ein
vornehmer Müßiggänger und junger Levemann, der
sein!
Zimmer im Elternhause, das der Lieblingsaufenthalt seiner
Familie ist, mit den zahlreichen Bildnissen seiner eigenen Ge¬—
Fliebten und denen seiner Freunde dekerirt. Man kann
es diesem Flaneur, von dessen etwaigem tieferen Gemüthsleben und
sittlichem Ernst Einem nichts bekannt wird, einfach nicht glauben,
daß, wie er sterbend erklärt, seine Geliebte ihm wirklich soviel wie
eine Frau, ja mehr als eine Frau gewesen sei und daß er sie
habe demnächst heirathen wollen. Warum geschah dies nicht schon
früher; warum versuchte er nicht schen, ehe er die Geliebte ent¬
ehrte, von seinen Eltern die Einwilligung zur Ehe mit dieser
zu erbalten und nölbigenfalls aus eigener Kraft die Ehe zu
Vermöglichen? Und wenn Toni Weber die Idealgestaft eines
weiblichen Wesens wäre, wofür Schnitzler sie uns ausspielen will,
warum besaß sie nicht wenigstens die sittliche Kraft und Selbst¬
schätzung, daß sie von ihrem Verehrer eine legitime Gestaltung¬
ihrer Beziehungen von vornherein verlangte? Nein, Toni Weber?
ist mit nichten eine Idealgestall,
eines jener Mädchen aus
Dem Volke
lauer Ooperiunilätsmoral, die in
1#
Mischung von gutmüthiger Leichtlebigkeit, Unbedenklichkeit und
naiver Gefühlswärme Herrn Schnitzler und seinen literatischen Ge¬
sinnungsgenossen als aubetungswerthe Heilige erscheinen, sowie sich
zu all' dem noch die gelegentlichen Thräuen des Schmerzes gesellen.
Man sehe sich diese Toni Weber nur nech näher an, und sie ver¬
scheitt sich—tmennbriber-ais-Gympalme.-ansihr sonst
e# troß Anlem entgigendlingen konnte.
#tritt nicht
haftes, zartfühlendes, stumm um Vergebung und Liebe bitten¬
des Geschöpf in
das Haus der Eltern ihres Geliebten, über
die sie doch gemeinsam mit diesem schweisten Kummer gebracht bat;
da ist kein Funken von Empfindung dafür, daß sie mit ihrem Ein¬
tritt in die Familie eine furchtbare Last auf diese häuft, daß sie ihr
die schwersten Opfer zumuthet und zur gesellschaftlichen Aechtung
verhilft — nein, ganz im Gegentheil. Fränlein Weber betrachtet
das Alles als ganz selbstverständlich, und zwei ziemlich eraltirte
Damen, eine Taute Emma sowie die erwähnte Tochter Franziska
bestätigen dies ja wiederhelt ganz offen in wuchtigen Tiraden;
sie verdrehen die Sache sogar derart, daß sie es geradezu
für die Pflicht der Fawilie erklären, der besagten Dame Weber ihre
Liebe an den Hals zu werfen und sich darum zu reißen, sie auf
Händen zu tragen.
Ein weiterer Fehler des Dichters ist der, daß er den von
ihm so mit Liebe gezeichneten Verfechtern der „neuen Moral“
nur einen kaltherzigen Egoisten, eine schwache Frau (die Mutter)
und einen gesinnungslosen Schwätzer, den Vater Professor Losatli,
gegenüberstellt. Hätte er hier auch einen andern Typus vertreten
sein lassen und z. B. in der Person des Vaters einen charakter¬
vollen, sittlich ernsten Mann hingestellt, so wäre die ganze Ent¬
wicklung des Stücks gleich vom ersten Akt an eine andere ge¬
worden, allerdings wäre damit auch die Beweisführung im Sinne
des Herrn Schnitzler unmöglich gewesen. Jedenfalls kann aber
sein Manèper nicht darüber täuschen, daß seine Forderung der Gleich¬
berechtigung für die freie Liebe durch das Stück weder im All¬
gemeinen, noch im Besondern gerechtfertigt erscheint. Zu diesen
Mängeln des Dramas gesellen sich noch andere. Wie drei Personen zum
gegebenen Zeitpunkt sterben müssen, so tritt die erwähnte Tante
Emma gleichfalls immer mit verdächtiger Pünktlichkeit auf die
Bildfläche, sobald es der Antor nöthig hat. Die qualvoll aus¬
gedehnte Sterbescene, die trübe Atmosphäre, welche die steis in
Trauer umberlaufenden Personen verbreiten, sind ästhetisch sehr
störend. Wenn in der Vorbesprechung anerkannt wurde, daß dies¬
mal Schnitzler auch dramatisches Leben zu geben verstanden hat, so
gilt dies in der Hauptsache vom 1. Akt, der eine spannend gesteigerte
Handlung enthält. In den beiden anderen Aufzügen tritt diese in¬
dessen wieder mehr hinter die feine Milienschilderung zurück, die das
eigentliche Element des Autors und ihm auch diesmal trefflich ge¬
lungen ist. Der Dialog ist durchweg sehr lebendig und natürlich.
Die Darstellung war, wie schon erwähnt, wieder vorzüglich. Die
Damenv Pöllnitz (Frau Losatti), Dumont (Emma Winter), Sarrow
(Franziska) und Elsinger in einer sehr munteren Knabenrolle,
sowie die Herren Reicher (Prof. Losatti), Rittner (Hugo Losatti),
Sauer (Dr. Schmidt' v. Winterstein (ein Freund Hugos) ver¬
dienten vollste Auerkennung.
Frau Lehmanns Erscheinung
paßte nicht recht zu der Gestalt der Toni Weber, und auch ihr Spiel
wurde dieser Rolle nicht ganz gerecht. So fehlten ihr namentlich
am Sterbebette des Geliebten die echten Töne, die äußerliche Auf¬
regung leidenschaftlichen Frauenschmerzes, die trotz aller Seelen¬
größe und Selbstbeherrschung zu erkennen hätte sein müssen;
ebenso wie bei ihrer Begegnung mit der Familie jegliche Spur von
der hier doch wahrscheinlichen Befangenheit mangelte. Auch das
Mienenspiel, das gelegentlich über Lachen oder Weinen im Zweifel
ließ, war nicht immer natürlich. Die Regie des Herrn Lessing
hatte sich um das Gelingen der Aufführung hochverdient gemacht.
P. G.
Wien, IX/1„ Türkenstrasse 17.
Filiale in Budapest: Figyelö“, VIII. Josefsring 31a. —
Ausschnitt aus: Vorwärts, Berlir
vom 47%
Theater.
Deutsches Theater. Es ist schlimm, wenn man in Deutsch¬
land einmal eingereiht und uummerirt ist, dann kann es einem leicht
so gehen, wie dem kleinen Tofsel, der nach Jahren in sein Heimaths¬
dorf zurücktehrte und, wiewohl er ein starker Bursche geworden war,
vom erstbesten alten Weid der kleine Tossel angesprochen wurde.
A#shurScchnigler, der Veriasser der „Lieheliz dessen neues
Frama „Vermächtniß“ am Sonnabend im Deutschen Theater
eaufgeführt würde, gehört ebenfalls zu den Abgestempelten. Ein
Wiener Plandertalent, graziös, ein wenig burschikos, in Leid und
Freund gern spielerisch; das Wesen seiner tleinen Dichtungen,
erinnert an die Weise des guten Wiener Walzers mit seiner unz
jauchzenden Genußfrende und seinem verhaltenen Weh. So ungefähr
lantete der literarische Stedkbrief des Mannes. Nun will aber Arthur
Schnitzler heraus aus seiner Reihe, er wöchte sem Beobachtungs¬
gebiet erweitern und flugs sen“. ihm von mancher Stelle das
Kommandowort entgegen: Stillgestanden! Das dulden wir nicht.
Es ist die alte Geschichte!
Das Wagniß, die engeren Schranken, innerhalb derer Schnitzler
bisher gewirkt hat, zu durchbrechen, ist dem Wiener Pocten auf dem
ersten Anlauf nicht gelungen. Wenigstens nicht durchaus. Auf einen
vortrefflichen Aufbeu folgen künstlerisch arme Flächen. Die warme
Gestaltungskraft läßt nach, die kühlere Berechnung waltet vor.
Trotzdem möchte man dem Manne, der den ersten Akt im „Ver¬
mächtniß“ geschrieben hat, zurufen: Schreite vorwärts, unbeirrt!
Freilich, schon an der Voraussetzung des Dramas läßt sich im
Grunde rütteln. Wiederum klassen alte Klassengegensätze im
Drama. Das „arme süße Mädel“ hat sich in den Sohn aus
gutem Hause verliebt. Aus der Liebelei ist eine tiefernste Sache
sgeworden, und man könnte den jungen Herrn Dr. Hugo Losgiti
Rragen: Warum die Heimlichkeit des Verhälinisses? Es haben um
Fa geringerer Dinge willen, als ein liebevolles Weit es ist, erwachsene juwe
Söhne sich von ihrem Hause losgesagt. Steckst Du selbst so tief in prio.
Deiner Klassenempfindung?

ihlbar
Indessen, wie die Sachen im Stücke liegen, ist die Zwitter=Voraus
stellung der Geliebten Hugo's nicht unwahrscheinlich. Vielleicht war
der junge Mann noch nicht reif genug oder zum Entschluß noch nicht ist
Ab gedrängt worden. Vielleicht hatte er seine Vorbereitungen getroffen, es den
Aals ihn ein schwerer Unfall betraf. Man hat kaum die Familiern.
* Hugo's kennen gelernt, da wird Hugo tödtlich verletzt ins Haus ge¬
Tbracht. Er ist während eines scharfen Ritts unglücklich gestürzt und
hat nur kurze Zeit noch zu leben. Nun drängt in ihm sich alles
zi ammen. Er offenbart sich vor seiner Mutter. Seine Geliebte
und sein vierjähriges Kind empfiehlt er sterbend seinen Eltern als¬
sein theuerstes Vermächtniß. Sie sollen die verlassene Toni und ihr
Kind halten und hegen, als wäre Toni Hugo's legitimes Weib
gewesen.
Ignaz Auer hat neulich gesagt: Reichstags=Abgeordneter zu sein,
ist wohl kein Vergnügen, aber gewiß auch keine Schande. In deu
jungen Tagen uneres Parlamentarismus war der Parlamentarier##
ein bevorzugter Mann in der Literatur. In der Gegenwartsliteratur¬
pflegt es ihm ähnlich zu gehen, wie auf Volksversammlungen.
Hugo's Vater, die saftigste, an individuellen Zügen reichste Gestalts
des Stückes, ist zum Ueberfluß auch Reichstags=Abgeordneter.
Das soll den selbstgefälligen Dummkopf noch näher kenn=
zeichnen. Man könnte Auer's Ausspruch etwa dahin voriiren:
Ein Abgeordneter braucht gerade kein Kirchenlicht zu sein; aber
evenso wenig braucht er als selbstgefälliger Tölpel zu erscheinen.
Uebrigens dem liberalisirenden Wiener Schwätzer, der noch nieg
jemanden beachtet und bewundert hat, als sich selbst, steht die Marken
Deputirter nicht uneben an. Es ist möglich, daß Schnitzler diese
Charattersigur erst durch das Ibsen'sche Mittel sehen gelernt hat:
wie er sie aber sah, wie er sie auf Wienerischem Boden auf dies#
Beine stellte, das ist sein eigenstes Künstlerwerk und es ist nichte
zwenig.
Anfangs ist der alte Herr Losatti noch gerührt und dünkt sich er¬
haben in der Rolle des Wohlthäters ohne Vorurtheil wider das „ge¬
fallene Weib“. Bald aber erwachen seine Klasseninstinkte. „Was
werden unsere Kreise davon denken?“ fragt er. Jede Unbequem¬
lichteit ist diesem Manne ohnedies verhaßt; und als Toni's kränkeln¬
des Kind erst gestorden ist, da ist nun bei ihm die volle Klassen¬
zempfindung entsebelt. Man jagt die arme Toni hinaus, man will
ssie mit Geld abfinden, das bitterste Gnadenbrot möchte man ihr
aufdrängen, und die Gequälte. Verbitterte geht „freiwillig“ in den
Tod. Man wird hier mehr überredet, als durch künstlerische
Schilderung von dieser Nothwendigkeit überzengt.
Nur ein Familienmitglied, des alten Losetti unschuldige,
junge Tochter, fühlt, was die arme Toni in den Tod
Tgetrieben hat. „Wir haben ihr Gnaden erwiesen, wo wir hätten gut
sein sollen.“ sagt sie.
Die Darstellung im Deutschen Theater kam dem modernen
Wiener Trauerspiel sehr zu Hilfe. Sie brachte dem halbgelungenen
Versuch Schnitler's bei dem Premierenpublikum wenigstens einen
ganzen Erfolg. Allen voran sei Reicher mit seiner Meisterstudie
des Tepmtirten und Professors Losatti genannt. Der Toni Weber
des Fränteins Eise Lehmann hätte etwas mehr wienerische Weiche
heit und Wärme genützt. —