II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 264

10. Das Vernaechtnis
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## Theater, Kunst, Litteratur, Wissenschaft.
Wilhelma=Theater. Freitag, den 16. Januar. Zweite
Goethebundvorstellung. „Das Vermächtnis.“ Schauspiel in
4 Akten von Arthur Schnitzler. Der gestrige Abend war, im
Nahmen des festgestellten Stückezyklus, der Abend des schwächsten
Interesses: ein mißlungenes Drama und eine anämische Dichtung
wurden angeboten, welche dann, bei dem Grad der Aufnahme¬
fähigkeit, den dieses Zufallspublikum an den Tag leat, in Neben¬
geräuschen und ohne Wirkung untergingen. „Das Vermächtnis“
ist seit dem Jahre 1898, in dem es erschien, als das wenigst
empfehlenswürdige Opus des feinen Sprach= und Seelenkünstlers
Schnitzlers bekannt. All die bestrickenden Eigenschaften, welche
z. B. die „Gefährtin“, überhaupt das Gesamttheater dieses ge¬
schmackvollen, wählerischen Charmeurs mit einem Klima graziöser
Empfindlichkeit umgeben, fehlen hier. Am ist das Motiv, arm
das technische Gerüst, ganz entblößt von der Schicht kluger Ueber¬
redung und dis kreter Hehlerei, die Schnitzler sonst über seine
dramaturgischen Berechnungen zu bereiten pflegt. Das Motiv:
entnommen ist es (während die novellistische Anlage des Ganzen
an des „Fils naturel“ systematische Kühnheit überhaupt nicht zu
denken gestattet) des großen Guy de Maupassant herrlicher Skizze
„L’enfant“, das der Dichter in Kompagnie mit Jacques Normand
zum Dreiakter „Musotte“ umgeschaffen hat (ich führe hier sehr
bekannte und anderwärts geschilderte Thatsachen an). Das reiche
Herz des Franzosen vollzog dort die Sühnung, die bei Schnitzler
nicht vollzogen wird. Er ließ im ersten Aktenen Maler Martinel
an seinem Hochzeitsabend vom Brief des erzies seiner sterbenden
Geliebten, eines Atelierdiruchens, überrascht werden. Im zweiten
gelobt der Schmerzgebeugte am Totenbeit in Musottens Hände,
er wolle das Kind ihres Bundes in sein junges Glück aufnehmen,
seine Frau ihm eine neue Mutter sein lassen. Im dritten Akt¬
ist das kleine Geschöpf legstimiert, Duldung und Freundlichkeit be¬
reiten dem Erblosen ein Erbteil, und in einen Appell an die
Güte klingt alles aus. Genau so schließt Franzi das Stück Schnitzlers:
„Wir hätten einfach gut sein müssen" d. h. die Familie Losatti
schuldete Treue dem „Vermächtnis“ ihres Sohnes, der zugeschworenen
Liebesmission an seinem Schatz und deren Knaben. Aber wie
groß sind — auch wenn man eine solche Lösung als geistigen oder
sentimentalen Gewinn betrachten will — des Schauspiels Struktur¬
gebrechen! Der erste Akt (da der junge, beim Reiten verunglückte
Dr. Hugo Losatti in seiner Mutter Armen liegt und nach seiner Ge¬
liebten, seinem Buben stöhnt und jammert) ist ein Präludium schrillster
Aff kie mit unratsam starkem Pedalgebrauch. Umso verhängnisvoller
ist de Flaue der beiden an eren Aufzüge, des Mittelaktes, der nicht (wie
die Oekonomie gebiet.t) Höhepunkt der Kurve geworden ist, sondern
(durch das Sterben des blassen Knäbleins) in weinerlichen, parallelen
Nacherinnerungen sich fortschleppt, und des ganz banalen Ausgangs.
Mit ärgerlicher Unsicherheit werden These und Antithese, welche
im Hausarzt Dr. Ferdinand Schmidt und der Wittwe Emma;
Winter verkörpert sind, einander entgegengestellt, ohne daß intimere
Milieureize, als die Semimentalitäten kleiner Dinge, der Spiel¬
zeugkasten des toten Buben und die warme Spätfrühlingssonne
vor den Fenstern, für das laue Verweilen entschädigen. Eine Cha¬
rakterstudie enthält das Stück: den Professor Adolph Losatti,
Nationalökonom und Parteiführer der vereinigten Lieken, d. i. den
pathologisch affizierten Schwächling, der in Worten feige sich ver¬
fängt, und dessen Lebensvoraussetzung die Unwahrheit ist. Herr
Schmidt=Häßler wurde dieser Gestalt nur im Aeußeren, Anekdotischen,
nicht im Wesen gerecht. Auch die übrige Besetzung war eine nicht sehr
vorteilhafte; jedoch verdienen Herr Gerasch, der in der dankbaren
Todesszene all sein Temperament sammelte, Fräulein Rossi als
geklärte Sprecherin der Nachsicht und Frau Remolt ###.T. Weber
(obwohl die Künstlerin für diese Gattung schon mehr Rohtine als
Unmittelbarkeit verwendet) alles Lob.
P. W.