II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 342

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10. Das Vernaechtnis
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ACETVLEN.
Dichter hat seine Gestalten mit minutiöser Sorgfalt
Kunst abgelegt hat, dies künstlerische Unding un¬
möglich gemacht haben könnte.
gemeisselt, aber er hat ihnen die Zunge nicht ge¬
Zu einem ausgewachsenen Theaterskandal ent¬
löst. Deshalb wird seine Poesie keine Erlösung.
wickelte sich die erste Aufführung von Max
Das letzte, hier sogar das erste Wort bleibt
Halbes „Der Eroberer“!); indessen war es noch
unausgesprochen. Auch dramatisch und theater¬
technisch ist dies Schauspiel, ob es gleich gewisse
nicht der ärgste, den wir in Berlin gehabt ha¬
Fehler und Ungeschicklichkeiten vermeidet, durch¬
ben. Aber er verstimmte doch. Denn es traf
aus keine hervorragende Leistung, und konnte es
Einen, der gut Kind der Klique ist. Aber war es
nicht sein, weil die Sache selbst undramatisch ist.
nicht der am wenigsten unverdiente. Weil ein
An eine starke und nachhaltige Wirkung dieses
Dichter zwei schöne Theatererfolge gehabt, deshalb
Werks glaube ich nicht. Die Hauptsache freilich
hat er nicht das Recht, das Publikum bis zur Ver¬
bleibt, dass sich Hauptmann zunächst wieder ein¬
zweiflung zu langweilen. Auch einem guten Dichter
mal auf sich und seine Kunst besonnen hat, und
fällt nicht immer was ein. Aber man muss nicht,
wieder redet und bildet, was er kann und versteht.
weil ihm früher einmal etwas eingefallen ist, jetzt
Seine weitere Entwicklung, wenn sie erspriesslich
auch das mit Gewalt den Leuten einreden, was
sein soll, muss auch hier wieder einsetzen, wo er
ihm nicht eingefallen ist. Dazu ist das Theater
zu Hause ist und Bescheid weiss.
nicht da, und die neue Richtung auch nicht. „Der
Einen grossen künstlerischen Triumph bedeutet
Eroberer“ ist der schwächliche, künsterisch in je¬
keines der neuen Dramen. Eine gewisse künstler¬
der Hinsicht unzulängliche und theatertechnisch her¬
ische Höhe erreichen nur Rostands „Cyrano de
vorragend ungeschickte Versuch, den grossen Ge¬
Bergerac“ und Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“
schlechtsgegensatz von Mann und Weib und zu¬
Rein dramatisch betrachtet aber stehen sie den
gleich das Thema vom Ubermenschen auf dem
andern fast noch nach; hier werden sämtliche
Boden der Renaissance darzustellen.
von Philippi geschlagen, der wieder kein Poet ist.
Den ersten grossen Theatererfolg hatte Gerhart
So ungleich sind die Gaben verteilt; so schlecht
Hauptmann mit seinem fünfaktigen Schauspiel
ist das moderne Theater bedient. Wo aber einmal
„Fuhrmann! Henschel“?), wo wir uns wieder auf dem
ein echtes Talent ist, da wird es mit instinktiver
festen gesunden Boden von Hauptmanns dichter¬
Sicherheit von den Direktoren abgelehnt.
ischer und persönlicher Heimat, Schlesien, befinden,
und wo wir das einfache, schlichte, ehrliche Dichter¬
herz wieder lieben können. Der Quell seiner Poesie
ist das Mitleid, das Mitleid mit den kleinen Leuten,
deren Leiden und Freuden, deren Schicksale und
Leidenschaften so selten einen guten Beobachter,
Acetylen.
und noch seltener einen guten Darsteller finden.
Das Bedürfnis nach Licht nimmt bei steigender
An diesem Schauspiel ist alles tüchtig. Und die
Gewerbethätigkeit und erhöhtem Wohlstande so
künstlerische Wahrheit ist getroffen in dem dieser
Lebenssphäre entsprechenden Ton, dem gedämpf¬
rapid zu, dass man nicht in Sorge zu sein braucht,
ten, halb ausgesprochenen, oft verschluckten, oft
wie neue Lichtquellen verwertet werden können,
sondern eher zu sorgen hat, wie neue Lichtquellen
verschwommenen, dem selten ins Bewusstsein kom¬
aufgeschlossen wer len können. Das geht am besten
menden Ton. Wo er ihn anklingen lässt und wo
aus einem Vortrag hervor, den kürzlich Dr. A.
der hinpasst, da ist Hauptmann echt. Das Charak¬
Frank (Charlottenburg) bei Gelegenheit des ersten
teristische an ihm ist das lyrische Pathos nach
Kongresses des „Calciumcarbid- und Acetylengas¬
unten. Und soweit stimme ich mit dem allgemeinen
verein“ über die „wirtschaftliche Bedeutmg der
Beifall überein. Aber gross ist ieses Schauspiel
Acetylen- und Carbidfabrikation“ hielt. Er sagt:
nicht. Es fehlt der stark revolutic äre und tragische
Vergleicht man einen Leuchtstoff wie das Petroleum
Nebenton der ersten Werke Hauptmanns, es fehlt
mit einem andern Stoff dessen Verbrauch ebenfalls
die Allgemeingiltigkeit, wenn auch nur die gewollte.
als Mass für den Wohlstand angenommen zu wer¬
Perspektiven haben die Dramen von Hauptmann
den pflegt, dem Zucker so erhält man folgende
alle nicht ausser der unwahren Versunkenen
Zahlen: Es wurden in Deutschland auf den Kopf
Glocke“. Aber eine gewisse Resonanz haben doch
der Bevölkerung verbraucht 18os: 14,8 Kilogramm
die anderen, eine verhaltene Polemik. Der „Fuhr¬
Petroleum, 12,4 Kilogramm Zucker; 1806: 16,2 Kilo¬
mann Henschel“ behandelt einen einzelnen Fall,
wie wir ihn jeden Tag im Lokalblatt der Tages¬
gramm und 14,1 Kilogramm und 1807 sind beide
Zahlen wiederum in ähnlichem Verhältnisse ge¬
zeitungen finden. Er ist traurig, aber nicht tragisch.
stiegen. Aber nicht nur bei uns, auch in anderen
Ein Fuhrmann, der durch ein böses Weib zu Grunde
Ländern wird der Lichtbedarf stetig grösser und
gerichtet wird und sich zum Schluss umbringt. An
die Produktion von Petroleum in Amerika und
dem Stoff ist auch nichts dramatisch, noch hat ihn
Russland wächst von Jahr zu Jahr. Auch der Gas¬
der Dichter dramatisch gewendet. Das Drama be¬
konsum steigt fortwährend, trotz der Konkurrenz
steht aus Milieuschilderungen, aus denen sich aller¬
des elektrischen Lichtes, das sich immer weiter
dings die einzelnen Figuren plastisch abheben,
ausbreitet. Bisher hatte von allen Lichtquellen das
Aber es ist keine Aktion, nicht einmal ein Gegen¬
Petroleum die grösste Bedeutung. Da nun die Ver¬
satz, kein Wille, keine Energie in ihm. Der Held ist
suche, in Deutschland selbst Petroleum zu gewin¬
ohnmächtig, dass er auch nicht einmal gegen Schick¬
nen, als gescheitert anzusehen sind, so wäre es
sal oder Menschen ernstlich reagiert. Das ist alles
von der grössten wirtschaftlichen Bedeutung, wenn
deplazierte Lyrik und Novellistik. Und eine Kunst
Deutschland sich mit seinem Lichtbedarf vom Aus¬
der Zusammenhanglosigkeit. Auch „Kabale und
lande unabhängig machen könnte. Das ist also eine¬
Liebe“ ist aus einer Zeitungsnotiz entstanden, wie
Aufgabe, an deren Lösung die Acetylenindustrie
das neue Werk Hauptmanns. Aber Schiiler hat aus
mitzuarbeiten berufen ist. Eme andere Aufgabe für
der Zeitungsnotiz eine Welthistorie gemacht, der
das Acetylen liegt auf dem Gebiete der Luxus¬
„Fuhrmann Henschel“ bleibt eine Zeitungsnotiz, nur
beleuchtung. Das Spektrum des Acetylenlichtes
ausgearbeitet und ausgestaltet, ganz im Bann der
kommt dem Sonnenlichte sehr nahe in Bezug auf
Sphäre von General- oder Lokalanzeigern. Der
Farbenfülle. Wo es darauf ankommt, bei Beleucht¬
ung die Farben richtig zu erkennen, da steht das
1) Berlin, Verlag von Georg Bondi.
Acetylenlicht in allererster Reihe. Ein scharfe
2) Berlin, S. Fischer, Verlag. 5. Aufl. 1899.