II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 349

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10. Das Vernaechtnis
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zerfasernde Analyse, nicht das angestrengte Hinstricheln geistvoller Schat¬
tierungen, sondern — ähnlich, wie bei Sauer — ein Mitleben aus der
Fülle innern Reichtums. Das gibt seiner Gestaltung eine unbestreitbare
Selbstverständlichkeit, die nicht errechnet werden kann und nicht bewiesen
werden muß; die Wahrheit eines persönlichen Erlebnisses. Sein kluges
feines Lächeln durchhellt die Miene distinguierter Schlanköpfe und Leise¬
treter mit den reizvollsten psychologischen Lichtern. In Schnitzlers „Ver¬
mächtnis“ spielte er den elegant verlogenen Schönredner Losatti — und der
Abend bleibt unvergeßlich, so vergessen das Stück auch schon ist; denn
damals vollzog sich vor unsern Augen die Umwandlung Hartmanns zum
Darsteller moderner Typen. Aehnliche Gestaltungen folgten in Stücken,
die bis auf den Namen verwischt und verschwunden sind, und aus denen
dem Freund des Burgtheaters nur noch ein Blick, eine Handbewegung,
ein leise verschwebender Ton von Ernst Hartmann, dem wunderbar Ueber¬
legenen, im Gedächtnis haftet. Es folgte sein Konsul Bernick: blendend,
höchst vollkommen in der Form, reich an menschlichem Gehalt und unbegreif¬
lich einfach in der Technik; der letzte Triumph seiner Geschmeidigkeit. Er
faßte in scheinbar absichtsloser Zeichnung den Sinn des ganzen Stückes
zusammen, gab die verdorben vornehme Bürgerkultur, wie Ibsen sie gewollt
hat. Da war zunächst die ruhige, unaufdringliche Distinktion des geborenen
Patriziers; da war die kleine, nicht unschöne Koketterie des reichen Provinzlers,
der in Pacis erzogen worden ist; da war der scharfe gezwungene Ton des
guten Bürgers mit dem schlechten Gewissen; da war die wohlanständige
Lüge, da war das fahle Verbrechen, das seine Haltung zu wahren weiß;
da war die letzte große Verzweiflung, der bebende Schmerz um sich selbst,
der aus den unversiegten Quellen eines lebendigen Herzens starr und heiß
heraufquoll. Da war eine Menschlichkeit, von allen Seiten bedingt und
bestimmt, von ihrem sozialen Boden genährt, in ihrer kulturellen Atmo¬
sphäre erwachsen. Wenn etwas mißlang, so war es — wie in den frühern
Jahren — der Hall und Schwung der großen Reden, dem sein ganz ge¬
schmeidigtes, ganz auf Feinheit und Ruhe gestelltes Organ nach wie vor
widerstrebt. Aber diese Stellen haben mit den seelischen und sozialen
Grundlagen des Stückes und der Rolle so wenig zu tun, daß ihr Zurück¬
weichen in keiner Weise den Glanz und den dramatischen Wert des Ge¬
stalteten antasten kann.
Von der schönen Vollendung dieses Bernick ginge nun der künst¬
lerische Weg geradeaus aufwärts zu andern, höhern Menschen der Ibsen¬
schen Welt. Die verbissene Härte und geniale Beschränktheit des John
Gabriel Borkman liegt vielleicht ein wenig abseits von diesem Weg. Aber
als Manders, als Rosmer, als Rubek müßte Hartmann jetzt alle seine
ausgeglichenen, hellen, milden, beseelenden, erhöhenden, adelnden Kräfte auf
das Glanzvollste offenbaren, in Schöpfungen, die zu den absoluten Gipfeln
heutiger Darstellungskunst aufragen würden.
Müßte — könnte — wenn er dürfte. Hoffen wir also!
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