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Kak
9.4. Der gruche adu zukjus
Kandschau!
Berliner Theater.
Witwe („Talisman*) zu Schanden machte,
Berlin war frühzeitig die Bühnenheimat
indem er gerade dieser Gans die Urheber¬
Arthe=Schuitzler dieses österreichischesten
schaft der verteufelt geistreichen Parodie der
Dichters der Moderne. Wenn ihn auch die
Hebbelschen Tragödie zulegte. Zwei Ver¬
Wiener heute den Ihren nennen und des
neinungen heben sich auf, eine Parodie, die
Burgtheaters neuer Herr das Debet früherer
parodiert wird, ist um ihr Salz betrogen.
Tage löschte, so ist doch nicht die Zeit ver¬
Auch erforderte diese Verbindung wider die
gessen, in der manches Schnitzlersche Werk
Natur viele grausame Verstümmelungen.
in Wien obdachlos blieb, während man in
Man versuche es getrost mit dem altmodischen
Berlin das Wienertum gerade in Schnitzlers
Nestroy, wie er ist! Er wird sich gut be¬
haupten.
weicher, leiser, herbstlich=schöner Wesenheit
doppelt lieben lernte. Arthur Schnitzler und
Während Strindbergs Ringer= und Be¬
Berlin sind einander seit langem vertraut.
kennergeist auf dem Martersterbelager er¬
Die Bühne, die Schnitzlers Heimstätte ist,
losch, spürten wir wieder seinen Hauch in
das Lessingtheater, brauchte am Geburtstag
dem bitterlichen Einakter „Mutterliebe“. Der
des Dichters nichts nachzuholen, und sie hielt
Antifeminist zerrt hier das Weib als Mutter
schon Sommerferien. Aber es stellten sich —
vors Tribunal. Aus schmutzigem Egoismus
und das verdient Beachtung — die großen
verdirbt eine verschlampte Weibsperson ihr
Volkstheater, zwei Institute, die vom Volke
wohlgeratenes Töchterchen. Aber Strindberg
nicht nur den Namen, vielmehr auch die
war Dichter — mehr, als er es sein wollte,
breiten Zuschauermassen beziehen, als werk¬
wenn er blutete, wütete, vernichtete. Aus
tätige Gratulanten ein: das Schillertheater
derselben Kraft, aus der der Haß gegen
und das Neue Volkstheater (Neue Freie
das unreine Weibelement sprühte, quell in
Volksbühne). Hier hatte man die Ein¬
dem Einakter ein holder Sonnenschein um
akter „Die Gefährtin", „Paracelsus“ und
die Seele und die Glieder eines tapferen
„Der grüne Kakadu“, dort das Wiener
jungen Mädchens, einer kleinen Retterin
Drama „Liebelei“ und die Satire „Literatur“
(die freilich nicht mehr retten kann). Eine
gewählt.
Lebensanschaulichkeit hat das Drama und
Viel weniger glücklich fiel das künst¬
einen naturgemäßen Dialog, die hohe Be¬
lerische Ritual eines fünfzigsten Todestages
wunderung verdienen.
aus. Auch Johann Nestroy ist den Neu¬
Diese Strindberg=Aufführung in den
Berlinern durchaus nicht fremd. Es steckt
Kammerspielen war dem Verein „Neue
etwas in der Kaustik des Wiener Vor¬
Freie Bühne“ zu danken, der in der näm¬
märzlers, was gerade dem schonungslosen
lichen Matinee uns in die Fieberkurven
Witz des modernen Berlin sehr verwandt ist,
oder in den alkoholischen Nebel einer
und das altösterreichische Kolorit entfremdet
spukhaften Orgie zog. „Gäste“, von Przyby¬
die Norddeutschen nicht, bietet ihnen sogar
ßewski heißt dieser Epilog des „Toten¬
einen anziehenden Reiz und träufelt in den
tanzes der Liebe“. Die Gäste sind Gespenster.
herben Pessimismus des Nestroy=Humors
Sie treiben zwei stöhnende Menschen in den
einen milderen Tropfen, dessen man, wenn
Tod, die vermutlich nur die adamitische Erb¬
man in Wien die Wiener Luft gewohnt ist,
sünde zu büßen haben, denn in irgendeine
nicht inne wird. Aber die Direktoren und
andere Kausalität wird uns der Einblick
Regisseure, die in den letzten Jahren Nestroy¬
verweigert. Der galizische Dichter wurde
Stücke in Berlin inszenierten, verkannten,
verkannt, als man ihn vor zwanzig Jahren
mit seltenen Ausnahmen, die ironische Primi¬
in Jungdeutschland mit Hoffnungen be¬
tivität jener Possen, deren biederes und alt¬
grüßte; er gehört nicht zum Geschlecht derer,
fränkisches Vorstadtgewand eine gar nicht
die da vorwärts schreiten. Von Maeterlinck
veraltete aristophanische Bosheit bekleidet.
und Strindberg borgte er manche Gebärde,
Man putzte sie auf, man modernisierte sie
aber er hinkt zurück zu den alten Schicksals¬
und — parodierte sie dabei ein wenig. So
tragikern, zu Müllner und Houwald.
hat es Reinhardt mit der „Freiheit in Kräh¬
Die Vereinsvorstellung machte das
winkel“ und dem „Lumpacivagabundus“
Berliner Publikum auch mit dem inter¬
gemacht, und noch viel barbarischer verfuhr
essanten Talent des geistreichen Wiener
man jetzt, indem man sich weiß Gott wie
Schriftstellers Ludwig Bauer bekannt. Leider
überlegen dünkte, im Neuen Schauspielhaus,
war die Darstellung der hellenischen Tragödie
wo man den „Talisman“ und die „Judith“=
„Aufstand in Syrakus“ derart unzulänglich,
Travestie sinnlos, ja fast ruchlos zu einer
daß eine gerechte Projektion des Urteils
Zwitterkomödie zusammenquirlte. Den
kaum möglich schien. In eine Todesstunde
Dramaturgen (sit venia verbo!) beschlich
verlegt der Dichter den Lust= und Lebens¬„
keine Ahnung, daß er Nestroys Blaustrumpf=, schrei eines sinnenfrohen Dichters und die
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Kak
9.4. Der gruche adu zukjus
Kandschau!
Berliner Theater.
Witwe („Talisman*) zu Schanden machte,
Berlin war frühzeitig die Bühnenheimat
indem er gerade dieser Gans die Urheber¬
Arthe=Schuitzler dieses österreichischesten
schaft der verteufelt geistreichen Parodie der
Dichters der Moderne. Wenn ihn auch die
Hebbelschen Tragödie zulegte. Zwei Ver¬
Wiener heute den Ihren nennen und des
neinungen heben sich auf, eine Parodie, die
Burgtheaters neuer Herr das Debet früherer
parodiert wird, ist um ihr Salz betrogen.
Tage löschte, so ist doch nicht die Zeit ver¬
Auch erforderte diese Verbindung wider die
gessen, in der manches Schnitzlersche Werk
Natur viele grausame Verstümmelungen.
in Wien obdachlos blieb, während man in
Man versuche es getrost mit dem altmodischen
Berlin das Wienertum gerade in Schnitzlers
Nestroy, wie er ist! Er wird sich gut be¬
haupten.
weicher, leiser, herbstlich=schöner Wesenheit
doppelt lieben lernte. Arthur Schnitzler und
Während Strindbergs Ringer= und Be¬
Berlin sind einander seit langem vertraut.
kennergeist auf dem Martersterbelager er¬
Die Bühne, die Schnitzlers Heimstätte ist,
losch, spürten wir wieder seinen Hauch in
das Lessingtheater, brauchte am Geburtstag
dem bitterlichen Einakter „Mutterliebe“. Der
des Dichters nichts nachzuholen, und sie hielt
Antifeminist zerrt hier das Weib als Mutter
schon Sommerferien. Aber es stellten sich —
vors Tribunal. Aus schmutzigem Egoismus
und das verdient Beachtung — die großen
verdirbt eine verschlampte Weibsperson ihr
Volkstheater, zwei Institute, die vom Volke
wohlgeratenes Töchterchen. Aber Strindberg
nicht nur den Namen, vielmehr auch die
war Dichter — mehr, als er es sein wollte,
breiten Zuschauermassen beziehen, als werk¬
wenn er blutete, wütete, vernichtete. Aus
tätige Gratulanten ein: das Schillertheater
derselben Kraft, aus der der Haß gegen
und das Neue Volkstheater (Neue Freie
das unreine Weibelement sprühte, quell in
Volksbühne). Hier hatte man die Ein¬
dem Einakter ein holder Sonnenschein um
akter „Die Gefährtin", „Paracelsus“ und
die Seele und die Glieder eines tapferen
„Der grüne Kakadu“, dort das Wiener
jungen Mädchens, einer kleinen Retterin
Drama „Liebelei“ und die Satire „Literatur“
(die freilich nicht mehr retten kann). Eine
gewählt.
Lebensanschaulichkeit hat das Drama und
Viel weniger glücklich fiel das künst¬
einen naturgemäßen Dialog, die hohe Be¬
lerische Ritual eines fünfzigsten Todestages
wunderung verdienen.
aus. Auch Johann Nestroy ist den Neu¬
Diese Strindberg=Aufführung in den
Berlinern durchaus nicht fremd. Es steckt
Kammerspielen war dem Verein „Neue
etwas in der Kaustik des Wiener Vor¬
Freie Bühne“ zu danken, der in der näm¬
märzlers, was gerade dem schonungslosen
lichen Matinee uns in die Fieberkurven
Witz des modernen Berlin sehr verwandt ist,
oder in den alkoholischen Nebel einer
und das altösterreichische Kolorit entfremdet
spukhaften Orgie zog. „Gäste“, von Przyby¬
die Norddeutschen nicht, bietet ihnen sogar
ßewski heißt dieser Epilog des „Toten¬
einen anziehenden Reiz und träufelt in den
tanzes der Liebe“. Die Gäste sind Gespenster.
herben Pessimismus des Nestroy=Humors
Sie treiben zwei stöhnende Menschen in den
einen milderen Tropfen, dessen man, wenn
Tod, die vermutlich nur die adamitische Erb¬
man in Wien die Wiener Luft gewohnt ist,
sünde zu büßen haben, denn in irgendeine
nicht inne wird. Aber die Direktoren und
andere Kausalität wird uns der Einblick
Regisseure, die in den letzten Jahren Nestroy¬
verweigert. Der galizische Dichter wurde
Stücke in Berlin inszenierten, verkannten,
verkannt, als man ihn vor zwanzig Jahren
mit seltenen Ausnahmen, die ironische Primi¬
in Jungdeutschland mit Hoffnungen be¬
tivität jener Possen, deren biederes und alt¬
grüßte; er gehört nicht zum Geschlecht derer,
fränkisches Vorstadtgewand eine gar nicht
die da vorwärts schreiten. Von Maeterlinck
veraltete aristophanische Bosheit bekleidet.
und Strindberg borgte er manche Gebärde,
Man putzte sie auf, man modernisierte sie
aber er hinkt zurück zu den alten Schicksals¬
und — parodierte sie dabei ein wenig. So
tragikern, zu Müllner und Houwald.
hat es Reinhardt mit der „Freiheit in Kräh¬
Die Vereinsvorstellung machte das
winkel“ und dem „Lumpacivagabundus“
Berliner Publikum auch mit dem inter¬
gemacht, und noch viel barbarischer verfuhr
essanten Talent des geistreichen Wiener
man jetzt, indem man sich weiß Gott wie
Schriftstellers Ludwig Bauer bekannt. Leider
überlegen dünkte, im Neuen Schauspielhaus,
war die Darstellung der hellenischen Tragödie
wo man den „Talisman“ und die „Judith“=
„Aufstand in Syrakus“ derart unzulänglich,
Travestie sinnlos, ja fast ruchlos zu einer
daß eine gerechte Projektion des Urteils
Zwitterkomödie zusammenquirlte. Den
kaum möglich schien. In eine Todesstunde
Dramaturgen (sit venia verbo!) beschlich
verlegt der Dichter den Lust= und Lebens¬„
keine Ahnung, daß er Nestroys Blaustrumpf=, schrei eines sinnenfrohen Dichters und die
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