II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 95

anschauungen, als ein heftiges, oft über¬
treibendes Verfechten der persönlichen An¬
schauungen! Hat dann das Neue schliesslich
den Sieg errungen, so werden ganz von selbst
allmählich die Geister sich beruhigen und in
geklärter Ruhe reifere und ästhetisch schönere
Werke liefern. Ob sie dann nationaler sein
werden in dem Sinne, wie es jene Litteratur¬
freunde wollen, können wir heute so wenig
wissen, wie wir in anderen Dingen die Zukunft
vorherzusagen vermögen. Sollte aber eintreten,
was jene wünschen und erstreben, sollten die
Nationen in Politik und Leben wieder schroffer
einander gegenübertreten, was wir weder
glauben noch wünschen möchten, so würde
wohl auch in der Litteratur ganz von selbst
das Nationale wieder mehr in den Vorder¬
grund treten. Würde aber das Gegentheil ein¬
treten, so muss auch das allgemein Mensch¬
liche in der Litteratur immer mehr an Boden
gewinnen. Mit Wünschen und Gewaltmass¬
regeln aber lässt sich der Lauf der Welt¬
geschichte nicht dauernd beeinflussen und
lenken. Darum warten wir ab und gönnen
wir vor allem unseren Dichtern und Denkern
Freiheit in jeglichem Sinne.
In der „Fortightly Review gibt W. K.
Johnson ein äusserst sympathisches Bild Katho¬
rinas der Grossen von Russland. — Mrs. Virginia
Crawford veröffentlicht eine interessante Studie
über den belgischen Dichter Emile Verhaeren.
— Sir Francis Gallon will versuchen, eine
Verbindung zwischen den Bewohnern des Mars und
unseres Planeten herzustellen. Zu diesem Zwecke
schlägt er Riesenhieroglyphen vor, welche die Mars¬
bewohner wahrscheinlich leicht entziffern werden,
vorausgesetzt, dass sie wissenschaftlich ebenso
weit vorgeschritten seien wie wir, was allerdings
noch nicht bewiesen ist.
In der polnischen Zeitschrift „Przegląd Polski
beleuchtet E. Lipnicki in seiner Studie über
Ungarn und seine Au tellung die Dienste, welche
dem Lande von den Habsburgern erwiesen worden
seien. Die Regierung Franz Josephs I. wird in der
Geschichte Ungarns als das goldene Zeitalter be¬
zeichnet werden.
„Cobue“ ist der Name einer rumänischen Zeit¬
schrift, in welcher unter dem Titel „Philologische
Notizen eine originelle Besprechung der Hunde¬
namen zu finden ist. Die Christen, sagt der Autor,
geben dem Freund des Menschen die Namen heid¬
nischer Gottheiten, wie Diana, Castor; die Franzosen
taufen sie: Bismarck, Crispi, während die Deutschen
die Namen Napoleon und Franzos wählen. Im
Banat und in der Marmaros hört man die Hirten ihre
Hunde Piru, Zagurta, Cimbru rufen, in welchen
Namen man leicht Pyrrhus, Jugurtha, Cimber,
erkennen könne, welche im Volksmunde noch
2500 Jahre nach dem Verschwinden der Helden, die
diese Namen trugen, fortleben. Ueber das Warum?
klärt der Dichter die Leser nicht auf, sondern über¬
lässt diese Aufgabe dem Prychologen.
Henri Beranger liefert in der „Vie Contem¬
poraine“ eine schneidende Analyse der Pariser
Kritiker. Paris habe zuviel Vice-Brunetières und
keinen einzigen Saint-Beuve. Beranger schreibt
die Schuld daran der Universität zu, die mehr
Professoren erzeugt, als sie Stellen zu vergeben
hat; die Stellenlosen werden dann, des Wartens
müde, zu Kritikern. Sie reden dann eine Sprache,
die weder Philosophie, noch Litteratur, noch
Kunst sei. An Stelle von Werken machen sie
Formeln und schaffen bis in's Unzählige Schulen
und Wörter auf vismus.
Die Sprache der Blumen ist Manchem unklar,
jene der Dornen aber versteht Jeder, Gräfin,
Je langsamer die Schritte werden, um so
DIE VORNEHME WEET.
Berliner Bühnenwinter.
Alfred Kerr (Berlin).
Haltet fest an der Demuth, denn Gott
widerstehet den Hoffärtigen. Die Mahnung
des heiligen Peter hat ihre grossen Vorzüge.
Aber das heidnische Goethe-Wort vom Be¬
scheidensein der Lumpe ist auch nicht schlecht.
Eine kleine Zahl von Leuten, die ich ungern
als ganz dumm herstellen möchte, weil ich
dazu gehöre, hegt die bestimmte Ansicht,
dass die Hauptstadt der Deutschen heut die
Hauptstadt des europäischen Dramas ist. Ein
Vergleich mit Paris (Österreichische Leser
werden verzeihen, wenn diesmal blos diese
Stadt in Betracht gezogen wird) ergibt eins,
zwei, drei die Ueberlegenheit Berlins.
Warum?
Darum. Was in Paris Wesentliches er¬
scheint, wird auch an der Spree gespielt.
Aber zugleich ist Berlin die älteste und
reifste Ibsenstadt Europas. Zugleich ist Berlin
für Gerhart Hauptmann's mattstrahlende
Kunst die Wiege und die wichtigste Pflege¬
stätte. Zugleich gibt Berlin vom weltlittera¬
risch Guten der Vergangenheit die anstän¬
digste Auswahl. Zugleich wird hier die
Operette, als das Musikdrama der Mikro-
cephalen, auf den kleinsten Raum verdrängt.
Zugleich ist man hier frei von schwach¬
sinniger Mimenverehrung. Das Alles ist nicht
oft genug zu sagen.
Immerhin auch wir kochen mit Wasser.
Neben dem Grossen und Keimfähigen, was
dieser Boden hochtreibt, wuchert die übel¬
riechende Masse der klebrigen Dramenhändler.
Die miserrima plebs der Schwindler, der Po¬
seure, der Krüppel, der Petrefakten. Nur sind
sie anderswo mächtiger als hier.
Beide Richtungen kamen in diesem Winter
zum Worte.
Um einen Augenblick bei den Franzosen
zu bleiben: Hervieu und Prévost wurden ge¬
spielt, neben dem Possenkram, und beide
mit Hohngelächter verabschiedet. Bei den
Demi-Vierges war das unauffällig; sie hatten
schon daheim kein gutes Schicksal. Der
Roman enthielt eine einzige dramatische
Scene in der Wohnung des Helden. Und
so dramatisch diese Scene ist, so unmöglich
schien sie für keusche Augen auf der Bühne.
Dam fiel auch das Letzte weg. Hervious
»Te illes wurden in Frankreich sehr ernst
gen amen. In Berlin begriff man sofort, dass
diese Feindseligkeit einer ehelichen Sphäre
in den Oberflächen erschaut war, wo neue
deutsche Dramen, nicht blos das Friedens¬
fest, an tiefer packende Wesensschilderung
gewöhnt hatten. Man lachte kopfschüttelnd
über diese Unzulänglichkeit.
Von deutschen Werken war Hauptmann's
»Versunkene Glocke, das Grösste, was die
erste Winterhälfte gegeben hat. Die zweite
wird nichts Grösseres bringen. Eine strahlende,
naturmächtige Zauberwelt voll hinreissender
sinnlicher Pracht lebt in diesem tragischen
Märchen. Der schmerzenstiefe, gramgewaltige
Reiz und die verklingende Sehnsucht geben
das Erlebteste aus Gerhart Hauptmann's
ganzem Bereich Ein Künstler eine Elfe
liebend: der Flug zum Uebermenschlichen und
der ewige Traum von bürgerlicher Befreiung
erhalten Gestalt. Dieser Glockengiesser,
der in Rautendelein's luftigen Kreis geräth
und mit der Einzigen die irdische Niederung
verlässt; diese Beiden, die in heidnischem
Schöpferdrang und heidnischer Sinnenselig¬
keit auf den Höhen leben; die drückenden
Erdenmächte, die allmälig nachkommen; Er¬
innerung des Gewissens und Schaffensqual,
die den verstiegenen Mann in dämmernde
Vernichtung ziehen: es ist nutzlos nach Ideen
zu suchen, wo nackte und greifbare Ereig¬
nisse so unwiderstehlich wirken. Der süsseste
Zauber des deutschen Märchen fliesst um
die melancholischen und grotesken Gestalten
dieses Wunderwerkes. Nicht blos an das
knüpft Hauptmann an, nicht blos