II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 333


Kraft, Schnitzlers „Freiwild“, das vor
Figuren und des seelenvoll geformten landschaft¬
einem Jahrzehnt im „Karltheater
zu Boden
lichen Hintergrundes. Alle diese Menschen
fiel, ein geschickt geschnitzeltes Tendenz= und
mitive Philosophen und Daseins=Grübler
Thesenstück gegen das Duell, in seinem künstle¬
Gorki selbst, suchen den Sinn des Lebens,
risch wertvolleren Teil ein zartes Aquarell aus
Stellung zum Leben zu fixiren. In diese
eine
mondain=österreichischer Gesellschaft, fesselt jetzt
Beleuchtung sind alle Charaktere gerückt,
eben durch die Ernsthaftigkeit der gestellten Frage.
scharf heben sich die Konturen ab! Da ist
Und von den Premieren der allerletzten Wochen
der Vater Beßjemonow, der kleinbürgerliche
und Tage haben uns wieder nur jene intensiver Maler, der sein Leben abarbeitet wie eine Pflicht,
beschäftigt, die auf einem sozialen, einem politi¬
spart, den geachteten gesellschaftlichen Platz zu
schen und sogar sozialpozialpolitischen Grund ge¬
gewinnen und zu behaupten und seine Kinder zu
baut sind: ich meine das russische Sittenstück versorgen strebt. Da ist die Tochter Tathana, die
„Die Kleinbürger“ Gorkis und ein Wiener
mit dem Leben überhaupt nichts zu beginnen
Volksschauspiel „Fräulein Lehrerin“ von weiß, verzweifelt und von dem Alltag ermüdet
Viktor Leon und Leo Held. Gestatten Sie mit dem Tode spielt. Da ist Nil vor allem, ein
mir von diesen beiden jüngsten, selbst im bunte¬
prächtiger, kräftiger, naiver Junge, für den es
sten Faschingswirbel der „Metternich=Blumen¬
entnervende Träume nicht gibt, der munter in
Redoute, und der farbenfrohen Künstlerfeste noch
das Leben springt, wie ein Fechter dort, wo es
unverwischten ernsten, ja grauen Eindrücken zu am verlockendsten und drohendsten wirkt. Da sind
berichten.
endlich die Vaganten=Telerew, der so unkirchliche
Kirchensänger und der Vogelhändler Partschichin,
Gorkis „Kleinbürger" sind ein in die Szene
die richtigen Prinzen Vogelfrei voller Lebens¬
gesetzter Beweis für alles Hinfällige unserer gan¬
sehnsucht und Lebensverachtung, Gestalten so
zen dramaturgischen Schulweisheit. Was beginn
man mit den staubigen Theorien von der „tra¬ ganz aus dem sehnsüchtig trotzigen Geiste Gorkt¬
geboren, aus jenem aufrichtigen, um alles Leiden
gischen Schuld“, der Katharsis und der Katastrophe
mitleidig flatternden Geist, der diesen der innig¬
diesen ereignislosen Szenen gegenüber, „Szenen
sten Liebe werten Poeten und Menschen in die
aus der Enge" möcht ich sie nennen, wie Gork
Peter=Paulsfestung zwang...
selbst das „Nachtasyl" „Szenen aus der Tiefe
Von diesem den deutschen Bühnen beinahe
nannte — Szenen ohne dramatisches Gefüge, ohne
noch fremden, jetzt in mehr als einer Richtung
Neigung, breit und dumpf verlaufend, und
zeitgemäßen Werk, dahinter eine ganze Kultur¬
dennoch unser Empfinden tief und schwermütig
welt gärt, scheint ein recht weiter Weg zu jenem
zu sich bannend. Wahrhaftig, mit dem Aristoteli¬
andern gar nicht dunkeln, sondern hübschen und
schen, mit dem Lessingschen, selbst mit dem mo¬
liebenswürdigen, mit einem Wort Wienerischen
dernen Zustands-Drama haben diese Szenen
Volksstück, das den dauernden Erfolg der letzten
wenig gemein, denn bei Holz und Schlaf und
Woche bedeutet. Ich meine den Dreiakter „Fräu¬
Hauptmann sind doch die Zustände selbst dra¬
lein Lehrerin" von Victor Leon, dem
matisch bewegt, die Seelen in diese Dumpfheit
bühnensichern Theatermann, und dessen Bruder
des Lebens gezwungen, verändern sich, wachsen
Leo Hirschfeld, den man als Dichter des Jung¬
kämpfen wider den Zwang des Tages. Von alle
Leute=Stücks „Die Lumpen" in Prag wohl noch
dem ist bei Gorki kaum die Rede. Das Stück
in angenehmer Erinnerung hat. Von Gorki zu
steht von dem Augenblick still, da es erst beginnen
diesen Wienern scheint kein Zusammenhang zu
sollte. Der Kleinbürger Beßjemonow hat zwei
führen, und doch sind auch diese bei aller Ver¬
Kinder, den sechsundzwanzigjährigen Studenten
schiedenheit des Landstrichs, der Temperamente
Peter und die achtundzwanzigjährige Volksschul¬
wohl auch der gestaltenden Kraft, durch eines
lehrerin Tathana. In seinem engen, beschränkten
verbunden: die Echtheit. Das Leon Hirschfeldsche
spießbürgerlich langweiligen Hause wohnt noch
Volksstück mit seiner gesunden, gesellschaftlichen
ein Pflegesohn Nil, der Lokomotivenführer, und
Fabel — es handelt von einer armen, braver
die Tochter eines entfernten Verwandten Pelja.
Volksschullehrerin, die, einem jungen Beamten an¬
Diese beiden jungen, frischen, der Zukunft ver¬
strauenden Leute finden einander bald, Tathana, verlobt, durch das neue, die Lehrerinnen zum
Zölibat verurteilende Gesetz ihr Lebensglück be¬
die von Nils Lebensfreudigkeit desgleichen ge¬
droht sieht und es dann auf eigene mutige Weise
wonnen war, versucht sich zuvergiften: Nil verlä߬
sucht — dieses schlichte Stück scheint mir eine
mit seiner Braut den polternden Pflegevater,
auch Peter gründet sich das eigene Heim, die der geschmackvollsten, saubersten, im Ton ein¬
fachsten und ehrlichsten der ganzen Gattung. Es
Alten bleiben, von den Kindern, die aus dem
steuert gewiß einer Tendenz entgegen, aber diese
Neste geflogen sind, verlassen, allein zurück. Mehr
Tendenz ist nichts als der Appell des Natürlichen
geschieht in diesen Szenen im Hause Beßjemo¬
nows" wirklich nicht, der Schrei der vergifteten wider die konstruiert verlogene Moral. Einzelne
Figuren, besonders die frische, forsche Lehrerin
Tathana ist der einzig dramatische Akzent. Auch
selbst, vor allem aber der selbstsüchtig=gutherzige
der geistige Gehalt dieser Szenen ist weder be¬
Hausherr Hartriegel, ein Anzengruber=Charakter
sonders neu, noch außergewöhnlich vertieft. Der
sind mit so sicherem Griff aus der Wirklichkeit
Kampf zwischen den Generationen, die „Familien¬
jeder großen Stadt entnommen, daß schon um
katastrophe ist von den deutschen Naturalisten
dieser Figuren willen dieses amüsant nachdenkliche
seit der „Familie Selicke, dem „Friedensfest",
Volksstück überall den Beifall gewinnen muß, des
der „Heimat“ unendlichemal abgehandelt worden;
ihm in unserem „Raimundtheater" treu zu blei¬
für die russische Gesellschaft hat Turgenjew in
Dr. Paul Wertheimer.
ben scheint.
dem Roman „Väter und Söhne" diesen Gegensa
weltmännischer, geistreicher gefaßt. Aber dennoch
trotz dieser Ereignislosigkeit, trotz der Ver¬
trautheit des Motivs hält uns Gorkis breites un¬
theatermäßiges Schildern in steter Spannung
die man sonst eben die theatralische zu nennen
pflegt — so stark ist die Macht eines Dichter
über die ästhetischen Formeln. Den Dichter Gorki
spürt man aber in der Schlichtheit der Darstel¬
lung, in jener milden Parteilosigkeit, die weder
den Alten noch der Jugend Recht gibt, sondern
voraussieht, daß auch die jetzt anstürmende ju¬
gendliche Generation sehr bald den Alten glei¬
chen wird, vor allem aber in der Stimmungs¬
tiefe jeder ganz in Gefühl gebetteten Szene und
in jener, nicht aus Gelehrsamkeit, sondern auf
in mitleidigen Weltverstehen quellenden Weis¬
heit: die einfachen Eltern müssen sich in Arbeit
verbeuten, um ihre Kinder zu gebildeten Men¬
schen, die einmal im Leben weiter und höher
kommen sollen, heranzuziehen, die Kinder selbst
aber werden, eben da sie „gebildet, oder wenig¬
stens halbgebildet wurden, von den Eltern, die
sich geopfert haben, abfallen. Den Künstler
Gorki aber, dem bei aller Volkstümlichkeit die
wunderbare Kraft des intuitiven Schauens, der
nuancierten Gestaltung, der eindringlichen Land¬
schaftszeichnung unmittelbarer denn irgend einem
8. Frei