II, Theaterstücke 8, Freiwild. Schauspiel in 3 Akten, Seite 439

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Freiwi
8.
Kurzsches Ensemble-Gastspiel im
Krystall-Palast.
Leipzig, 27. Juni. Nach den possenhaften „Bocksprüngen
brachte das Kurz'sche Ensemble gestern eine ernste Novität,
das Schauspiel „Freiwild von Arthur Schnitzler,
einem jungen Wiener Dichter, dem die Kritik, besonders die
jüngstdeutsche, ein sehr günstiges Horoskop stellt. Nach einer
Seite hin wird dies wohl durch „Freiwild“ bestätigt: die
Handlung hat eine consequente Entwickelung; sie bewegt sich
nicht in Zickzacklinien und die Spannung bleibt fortwährend
auf den Hauptvorgang gerichtet. Dagegen sind die Haupt¬
charaktere durchaus unsympathisch und unliebenswürdig.
Das Stück ist ein Thesenstück; die These wird mit
folgerichtiger Logik, aber mit einer etwas unschmack¬
haften Herbheit behandelt. Die Standesehre, die Ehre
des Officierstandes ist die Grundlage der Handlung.
Ein Officier wird, weil er sich über eine Künstlerin in
beschimpfenden Ausdrücken ergangen, thätlich insultirt,
und der Beleidiger weigert sich, in einem Duell Genugthuung zu
geben; er bleibt hartnäckig bei dieser Weigerung, auch als ihn
ein humangesinnter Kamerad des Lieutenants darauf hinweist
daß die Existenz desselben durch solche Weigerung vernichtet
wird. Was bleibt nun dem beleidigten Officier übrig? Die
Uniform auszuziehen, sich eine andere Existenz zu suchen, das
ist gegen seine Grundsätze; damit würde er sein Lebens¬
element verlieren, es giebt nur ein Mittel, seine Ehre
wieder herzustellen — er schießt den Andern einfach nieder
und nimmt sich dann selbst das Leben. „Ein Fetzer
des wirklichen Lebens wie Zola sagt, und hier auf
die Bühne gebracht. Das Stück hat vor anderen
ähnlichen einen Abschluß voraus, der eine ganz bestimmte
Gestalt annimmt, aber er ist mehr traurig als tragisch. Das
Ganze ist eine dramatische Kritik socialer Zustände; man mag
sich für die Principien interessiren, die einander gegenübe
gestellt sind, aber die Menschen, die sie vertreten, interessiren
uns nicht.
Paul Rönning, der am Anfang nicht weniger händel¬
süchtig ist, als der Lieutenant, indem er trotz der Mahnungen
des Doctors Wellner den Provocationen desselben nicht aus
dem Wege geht, will sein Leben nicht auf das Spiel setzen
für etwas, was ihm zu unbedeutend scheint. Er ist kein un¬
bedingter Gegner des Duells, aber hier scheint es ihm nicht
geboten. Immerhin könnte man darüber mit ihm rechten; seine
Geliebte ist beleidigt worden, das könnte doch ein genügender
Anlaß zu einem Duell sein; doch sein Gegner ist ihm zu ver¬
ächtlich. Herr von Lenor hätte als Bonvivant von Fach
gewiß dieser Rolle gern eine leichtere Tönung gegeben; doch
Rönning ist, durchaus ernst gehalten, der Geliebten gegen¬
über ein zärtlicher Liebhaber, den andern gegenüber von
unbeugsamer Schroffheit. In der Scene, wo Oberlieutenant
Rohnstedt sich an sein menschlich Fühlen wendet, bleibt er
hart. Herr von Lenor stellte der Rönning nach beiden
Seiten hin im Geiste des Dichter dar, mit jener schau¬
spielerischen Gewandtheit, welche auch Aufgaben beherrscht,
die nicht seinem eigenen Fach angehören. Dem Rohnstedt
gab Herr Wirth einen gemüthlichen Zug — freilich plaidirt
der wohlwollende Vermittler vergeblich nach beiden Seiten
hin. Denn der von Herrn Rembe schneidig dar¬
gestellte Oberlieutenant Karinsky ist ebenso verhärtet
gegen die Rathschläge des Kameraden, wie Paul Rönning,
der in dem Doctor Wellner, dem Herr Peters ein großes
Maß von freundschaftlicher, geduldig ausharrender Gesinnung
gab, einen wohlmeinenden Berather hat. Der correcte Poldi
Grehlinger, der an eine ähnliche Figur in Sudermann's
„Ehre erinnert, wurde von Herrn Seldeneck ergötzlich dar¬
gestellt, ebenso der naive Husarenlieutenant Vogel von Herrn
Homann.
Von einem Sommertheater rühren die Anlässe zu dem
Conflict des Stückes her: der Humor, mit welchem Schnitzler
das leichtblütige Völkchen schildert, schöpft nicht recht aus dem
Vollen. Die tragischen Posen Baldus (Herr Lewent),
die wechselnden Launen und Anwandlungen des Komikers
Enderle, der Geschäftseifer des etwas formlosen Regisseurs
Finke (Herr Ganzert), die übermüthigen und gehässigen
Plaudereien der Pepi Fischer (Bertha Laufer) und
Käthchen Schütz (Cola v. Olizar kommen, auch bei munterer
Darstellung, nicht auf gegen den grenzenlosen und sittenlosen
Egoismus des Sclavenhandlers, des Directors Schneider,
dem Herr Director Kurz das ganze Gebahren eines unter¬
geordneten Bühnenleiters gab. Die Heldin Anna Riedel ist
gewiß ein sehr anständiges Machen, aber sie ist larmogant
und langweilig und Hermine Heinrich konnte beim besten
Willen sie nicht interessanter machen. Stück und Darstellung
Rudolf von Gottschall.
fanden lebhaften Beifall.
Kunst und Wissenschaft.
In der Gesellschaft von Liebhabern dramatischer
Zw.
Literatur wurde am letzten Mittwoch Abend Schnitzlers „Frei¬
wild gelesen. Wegen einer ehrbaren, angehenden Künstlerin
des Theaters findet ein Rencontre zwischen einem Oberlieutenant
und einem jungen, unabhängigen und vorurtheilsfreien Manne
der Gesellschaft statt. Da dieser sich in der Affaire, bei der es
zu Thätlichkeiten gekommen ist, im Rechte glaubt und über die
Nothwendigkeit eines Duells als freier, außerhalb der Schranken
und Ehrbegriffe eines Standes stehender Mensch sich hinwegsetzt,
so wird er von dem durch die Verweigerung des Zweikampfes
in seiner militärischen Existenz vernichteten Offizier einfach über
den Haufer geschossen. Recht und Unrecht sind vom Verfasser
gleich vertheilt. Jeder darf auf seinem Standpunkt bis zu einem
gewissen Grade die Billigung seines Thuns beanspruchen,
wenigstens von dem Momente an, wo der von beiden Theilen
verschuldete Zusammenstoß erfolgt ist. Ein eigenes Urtheil über
Gut und Böse in dieser Schuld und Sühne giebt Schnitzler als
moderner Autor nicht ab. Er führt dem Zuschauer die Ge¬
schichte als Exempel vor und überläßt ihm, das Facit selbst zu
ziehen, wenn er will. Die Milieueinkleidung ist geschickt und
lebenswahr, wenn auch in der Hauptsache ohne besondere Origi¬
nalität. Die Beziehungen zwischen Bühne und Publikum, wie
sie hier in dem kleinen österreichischen Badeorte als Hintergrund
der Handlung geschildert werden, sind schon hundertfach so und
ders behandelt und ausgenutzt worden. Und was dieser so
kunstsinnige Herr Direktor von den weiblichen Mitgliedern
nes Ensembles erwartet, ist eine zu oft gehörte Alltäglichkeit
als daß sie die nicht allzu tief gehende Satire
der Leben
und interessant zu gestalten vermöchte. Es
des Ver¬
der Oberfläche theatralischer Feuilleton¬
bleibt zu
arbeit; der Dramatiker greift tiefer in den Reichthum
seiner Welt.
Die Leseaufführung des Stückes stand, wenn wir uns ein
senes Urtheil erlauben dürfen, hinter den bisherigen Vor¬
ehrungen der Saison zurük. Sei es, daß die leichte Konver¬
sation in den Haupttheilen der Komödie durch das Buch in der
Hand besonders behindert wird, sei es, daß die Mitwirkenden
sio in das scenische Gefüge eingelebt hatten
sich nicht so
des Ganzen gerieth einige Male ins Ungleiche.
kurz der
Doch vielleicht ist es falsch, derartiges an dieser Stelle zu kon¬
statiren. Aber der Kritiker kann nun einmal nicht ganz von seinem
alten Uebel lassen und möchte immer und überall haben, was
erreichbar und möglich St. Den Damen und Herren, die sich
diesmal in den Dienst der Sache gestellt hatten, sind wir darum
nichtsdestoweniger für ihre Leistungen dankbar. Denn sie haben
uns noch immer unvergleichlich besser und eindrucksvoller mit
dem Werke bekannt gemacht als es die bloße Lektüre ver¬
möchte. Auch zeigten einzelne Mitwirkende trotz des erwähnten
Mangels eines Ensembles sehr präsentable schauspielerische
Intelligenz.
Der Saal war überfüllt. Keine Stühle mehr, keine Pro¬
gramms — hieß es schon beim Aufgehen des Vorhangs. Hoffent¬
lich ist die erste öffentliche Aufführung der Gesellschaft am
6. November — wie schon mitgetheilt, wird „Ueber den Wassern“
von Engels gespielt — so vom Bühnengenius und von der
Theilnahme unseres Publikums begünstigt, wie es das ernste
künstlerische Streben dieser Vereinigung unter allen Umständen
verdient.