II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 111

Liebelei
5. SA
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Centralstätte der Kunst aus natürlich reguliren. In diesem Sinne hat die
Repertoirebildung des Burgtheaters heute in anderen Grenzen vor sich
zu gehen als zur Zeit, wo in Wien drei Vorstadttheater fast ausschlie߬
lich die Operette und Volksposse cultivirten. Jetzt müssen das Deutsche
Volkstheater und das Raimundtheater als Entlastungstheater der Hof¬
bühne geleitet und von der Direction der letzteren als solche strenge im
Auge behalten werden.
In der Repertoirebildung des zur Führung berufenen Kunstinstitutes
wird vornehmlich die Tendenz der Wiederschaffung eines einheitlichen
Darstellungsstils erkennbar sein müssen. Ein solcher verspricht für die
Auswahl der aufzuführenden Stücke eine sichere Richtschnur abzugeben
und auf gleichsam mechanischem Wege Alles abzustoßen, was unter die
Schwelle des Zeitinteresses gesunken ist und mit modernen Darstellungs¬
mitteln angefaßt, unwillkürlich in Caricatur sich verwandeln würde.
Die organische Entwicklung eines einheitlichen Neustils kann nur
von der planmäßigen Förderung der modernen Production und von der
Rückwirkung dieser auf die Darstellung des Classischen erwartet werden.
Die Schauspieler erhalten neue Zeitentwicklungsfarben für ihre Palette,
was ihnen für die Regenerirung einer überkommenen classischen Spielweise
unentbehrlich ist. Erst eine solche Vorführung der Classiker wird auch
wieder auf die moderne literarische Production einwirken und die jetzt un¬
sichtbare Continnität des menschlichen Kunstgeistes aufscheinen lassen.
Das wüste Durcheinander, womit jetzt eine unsichere Directionshand
die Spielzeit ausfüllt, sieht man von obigen Gesichtspunkten aus begriff¬
lich zusammengeweht und ist dadurch der unerfreulichen Mühe überhoben,
die herrschenden Repertoirefehler ebenso einzeln zu beleuchten, wie sie
systemlos begangen sind. Die Surrogatstücke, welche jetzt vornehmlich
unserer ersten Bühne ihr Gepräge aufdrücken, bestehen aus geistigen
Stoffen von geringem oder gar keinem Nährwerth und führen natur¬
gemäß auch eine Surrogatdarstellung im Gefolge. Das alte Repertoire
hat seinen Nährwerth bestenfalls aus längst hinter unserer Zeit liegenden
Prämissen gezogen und trägt die Merkmale der Jahrzehnte, welche zwei
Literaturepochen von einander trennen, an sich. Diese Zwischenzeitstücke,
wie man sie etwa nennen könnte, sind, so anscheinend harmlos und still
sie auch einen Theaterabend für die Zuschauer verlaufen machen, eine
ernstliche Gefahr für die Entwicklung der Schauspieler. Die ursprüngliche
Besetzung ist in der Regel bis auf einen oder zwei Darsteller abgestorben;
die nothwendigen Neubesetzungen verleiten den Nachwuchs zur Nachahmung
der abgegangenen Vorbilder, die aber selber, wären sie noch am Leben,
in der Gegenwart veraltet erscheinen würden. Für diese veralteten
Zwischenzeitstücke findet ein moderner Schauspieler keinen natürlichen Ton
mehr, und es verdorrt während eines solchen Spielabends ein Blatt seiner
frischen Individualität. Wie die creirenden Schauspieler, so starben auch
allmälig diese und jene Scene ab, der Kern des Stückes ist unterge¬
gangen und nur der Riffe wegen, an die sich ein oder zwei Darsteller
gleichsam an ihre Jugend — festklammern, werden solche Ruinen
noch im Repertoire gehalten. Diese Stücke waren es, die Jahrzehnte
lang auf die heute nicht mehr goutirte Darstellungsweise classischer Stücke
vielleicht berechtigt zurückwirkten, die aber, heute noch gespielt, naturnoth¬
wendig die älteren Darsteller verleiten, an ihrer alten classischen Dar¬