II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 211

Wien, Samstag,
28. März 1896.
Nr. 78
Seite 204
Die Zeit.
vollends gar nichts: es werden nur allerlei Unglücksfälle berichtet
Die jüngstdeutschen Revolutionäre brauchten ziemlich lange Zeit,
und bejammert. Selbst die schöne ergreifende Stimmung der zweiter
bis es ihnen gelang, sich des Theaters zu bemächtigen. Mit rühmens¬
Hälfte des vierten Actes vermag den bereits gänzlich erschöpften Zu¬
werter Unerschrockenheit holten die freien Bühnen die Kastanien für
sie aus dem Feuer, aber nachdem es der starken Kunst Sudermanns
schauer nicht mehr zu fernerer Theilnahme aufzurütteln. So kommt
geglückt war, den Realismus zur Modesache zu machen durch geschickte
es, dass einem im fünften Acte schon alles einerlei ist — er könnte
Verknüpfung neuer Ideen mit alten Mitteln theatralischer Technik,
nicht mehr wirken, auch wenn er theatralisch noch weit effectvoller ge¬
nachdem sogar Gerhard Hauptmann im „Deutschen Theater“ zu Berlin
staltet wäre, als er es in der That ist. Mir scheint, als ob Haupt¬
eine sichere Heimstatt gefunden hatte, konnte man wohl annehmen,
mann während seiner ungemein fleißigen Vorarbeit zu diesem großen
dass nunmehr die Kampfjahre vorbei seien und dass man, in Berlin
schwierigen Werke eine allzugroße Freude darüber empfunden habe, sich
wenigstens, auf ein gut geschultes Publicum zu rechnen habe, welches
selbst als starkes philologisches Talent zu entdecken. Zudem haben
ihm seine nächsten Freunde und theoretischen Vorkämpfer wohl ein¬
mit ruhiger Theilnahme der weiteren Entwicklung der Dinge zuzu¬
schauen gesonnen sei.
geredet, dass man bei einer dramatischen Gestaltung das Theatralische
Es war ein Irrthum.
um keinen Preis suchen dürfe, sondern dass dies Theatralische über¬
haupt nur dann so nebenher zu dulden sei, wenn es sich von selbst
Im Januar und Februar dieses I hres war ich in Berlin, um
einstelle. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass diese
einmal wieder scharfe, nervenaufstachelnde Theaterluft zu athmen. Die
Theorie unhaltbar sei, so war die Aufführung von Halbes „Lebens¬
Kunde von der schweren Niederlage des „Florian Geyer“ hatte
wende“ allerdings nothwendig. Im Lichte seiner neuesten Arbeit ge¬
mich dahin gelockt. Ich kam gerade noch zurecht, um die letzte Auffüh¬
sehen, erscheint mir Halbe als ein noch radicalerer Antidrama¬
rung dieses merkwürdigen Dramas mit anzusehen. Wenige Tage da¬
tiker als Hauptmann, ja sogar als ein Epigone der Verfasser der
rauf wohnte ich der ersten Aufführung von Max Halbes „Lebens¬
„Familie Selicke". Ich weiß wohl, dass er selbst das entschieden
wende“ bei, welche zugleich die drittletzte war. Tags darauf erlebte
bestreiten wird — er hat ja an dieser selben Stelle sich theoretisch
ich den großartigen Sieg Wildenbruchs mit seinem „König Hein¬
gegen die Milien=Dramatik ausgesprochen — aber sein eigenes Schaf¬
rich“ und in der Woche darauf die fröhliche Begrüßung eines neuen
fen beweist, dass sein bewufstes Können im Sinne eden jener Milieu¬
Namens mit der Aufführung von Schnitzlers „Liebelei“ im Deut¬
Dramatik beschränkt ist und dass das, was er etwa darüber hinaus
schen Theater. Diese vier Abende waren für die Entwicklungsgeschichte
zu geben vermag, nmt Zufallsgeschenk seiner reichen dichterischen Per¬
des deutschen Dramas von außerordentlicher Bedeutung. Da ich dies¬
sönlichkeit ist. Er fragt nicht, ist dieser Stoff dramatisch, oder wie
mal nicht selbst bewaffnet auf dem Kampfplatz erschien, sondern nur
kann ich ihn theatralisch wirkungsvoll gestalten, vermag dieses Milien,
als sachverständiger Schlachtenbummler zuschaute, und da ich überdies
können diese Personen, als welche mir einst nahe getreten sind und
inzwischen Muße gehabt habe, mir über die starken Eindrücke jener
mich zur Nachgestaltung reizen, wohl auch andere Menschen zu inter¬
heißen Tage klar zu werden, so darf ich vielleicht meiner Meinungs¬
essiren? Er schreibt unbekümmert darauf los mit warmer menschlicher
äußerung einen gewissen Wert beilegen. Was bei der Première des
und dichterischer Theilnahme für die Verhältnisse und Personen, welche
„Florian Geyer“ den Ausbruch des großen Scandals im letzten Acte
er zu schildern unternimmt, und meint, dass der Zuschauer im Thea¬
hervorgerufen hat, das war nicht die sittliche Entrüstung über die
#ter einen ganz besonderen Genufs verspüren müsste, des Dichters
brutale Behandlung der Bauern durch die betrunkenen Ritter, auch
Vaterfreuden nachzuempfinden. Nun ja, wohlgebildete wirkliche Men¬
nicht der Aerger der literarischen Gegner über den Beifall der Haupt¬
schen versteht Halbe freilich auf die Beine zu stellen, und gegen die
mann=Gemeinde, sondern einfach eine physische Reaction der durch
Richtigkeit seiner Sittenschilderung ist auch nichts einzuwenden, aber
Unklarheit und Langeweile überspannten Nerven der Zuschauer — und
diese Sphäre der besseren Hinterhäusler, in welche uns seine „Lebens¬
der Witzbold, der in den allgemeinen Tumult hinem den Namen
wende“ hineinführt, ist uns zur Genüge bekannt und die Menschen¬
„Wildenbruch“ schrie, hat in der That den Nagel auf den Kopf ge
exemplare, die er uns vorstellt, diese Zimmervermietherin, dieser ver¬
troffen. Ohne Wildenbruch, das heißt, ohne bewufste theatralische
bummelte Student, dieser hartgesottene Amerikaner u. s. w, sind an
Technik, kein Drama! Das war es, was Hauptmanns Niederlage
sich gar zu reizlos, zu gleichglitig, als dass sie unsere Theilnahme
dem Berliner Publicum und den deutschen Dramatikern mit überzeu¬
erzwingen könnten, auch ohne dass sie Träger einer irgendwie auf¬
gender Demlichkeit zu Gemüthe geführt hat. Als ich Florian Geyer
regenden Handlung wären.
im Theater sah, hatte ich zwar das Buch noch nicht, wohl aber zahl¬
reiche ausführliche Besprechungen gelesen, mir war also die Handlung
Halten wir die letzte schwere Niederlage Hauptmanns zusammen mit
bekannt, auch die Namen der Personen, und aus etlichen Stichproben
dem wirkungslosen Vorüberhuschen des matten Halbe'schen Stückes, so
des Dialogs hatte ich den Eindruck empfangen, dass der Dichter mit
gewinnen wir daraus die Erkenntnis, dass gerade das, was die Theo¬
der Nachschaffung der Sprache des 16. Jahrhunderts etwas ganz Un¬
retiker des Naturalismus verächtlich das Theatralische nennen,
gewöhnliches geleistet habe. Zudem zähle ich mich seit den Tagen der
die Vorbedingung jeder dramatischen Wirkung ist und dass der Man¬
freien Bühne zu den aufrichtigsten Bewunderern Hauptmanns, zu den
gel einer erregenden und in Spannung erhaltenden Handlung nur in
wärmsten Freunden seines künstlerischen Programms. Er hätte sich
Ausnahmefällen ersetzt werden kann durch Erregung starker rein
also wohl kaum einen günstiger gestimmten Zuschauer wünschen
menschlicher Sympathie mit einigen der auftretenden Personen. Einen
können. Aber schon der erste Act verwirrte mich, denn ich wufste
solchen Ausnahmefall war Schnitzlers „Liebelei“ so glücklich darzu¬
nicht, wer die redenden Personen seien. Hauptmann hat das erste
stellen. Weder die anmuthige Schilderung des Treibens in einem ele¬
Gebot für den Dramatiker, nämlich die Nothwendigkeit, dem Zu
ganten Junggesellenheim, noch das traurige Schicksal eines wahrhaft
schauer seine Personen so nachdrücklich vorzustellen, dass ein Ueber¬
liebenden Mädchens, dessen Geliebter um einer anderen Frau willen
hören oder Verwechseln nicht leicht möglich ist, in den Wind geschla¬
sich erschießen läfst, hätten an sich die lebhafteste Theilnahme des
gen. Erst im weiteren Verlaufe des Stückes gelang es mir, wenigstens
Publicums erzwungen, sondern das war die fast allen Personen vom
den Hauptsiguren ihren richtigen Namen zu geben. Welcher von den
Dichter verliehene außerordentliche Liebenswürdigkeit, die dies bewirkte.
zahlreichen Rittern z. B. der Götz von Berlichingen sei, wurde mir
Berühren uns doch oft im Leben die seltsamsten Schicksale fremder,
im Verlaufe des ersten Actes nicht klar. Ich hatte mich aber schlie߬
gleichgiltiger Menschen weit weniger, als die einfachsten Ereignisse im
lich mit einiger Kühnheit für einen Herrn in gelben Stiefeln ent¬
Dasein uns lieber, nahestehender Menschen. Allerdings gehört eine
schieden. Im letzten Acte begrüßte ich diese selben gelben Stiefel nicht
sehr feine dichterische Kunst und auch nicht wenig Glück dazu, wenn es
ohne Genugthuung, indem ich den Träger derselben für Götzen von
einem Drame ker gelingen soll, einem fremden Publicum in zwei bis
Berlichingen hielt. Hernach erfuhr ich jedoch von einem Eingeweihten,
drei Abendstunden seine Menschen so lieb und vertraut zu machen,
dass irgend ein ganz anderer Ritter im letzten Acte Götzens gelbe
dass uns ihr Thun und Treiben wirklich interessiert; außerdem ist ein
Stiefel aus dem ersten Acte angezogen habe! Das ist doch kennzeich¬
solcher Erfolg von der Qualität der Darstellung gar sehr abhängig. Es
nend für die Unklarheit der Techmk, mit welcher selbst der aufmerk¬
wäre aber doch durchaus unrichtig, aus der größeren Schwierigkeit,
samste Zuschauer einen vergeblichen Kampf kämpft. Ganz ebenso un¬
durch einfache Menschen=Abschilderung tiefere Wirkung zu erzeugen,
klar blieb mir jedoch auch die äußere Handlung: Ursache und Verlauf
schließen zu wollen, dass solche Kunst höher zu bewerten sei, als jene
des Bauernkrieges sind aus dem, was man zu sehen bekommt, keines¬
andere, welche ihre stärksten Wirkungen in der Handlung sucht. Wenn
wegs ersichtlich. Dazu müfste man schon sehr gut die Geschichte siu¬
Leckerbissen, wie Halbes „Jugend“ oder Schnitzlers „Liebelei“ dem
diert haben. Niemals bekommen wir die Bauern selbst zu sehen. Wir
Publicum öfters geboten würden, so würde es sehr bald den Ge¬
lernen nur einige Parteigänger aus dem Stande der Ritter, der
schmack daran verlieren, wogegen sich die Wirkung einer reichbewegten
Geistlichkeit und der Gelehrten näher kennen und erleben auf der
Handlung niemals abstumpfen wird. Alles vor einer lauschenden
Scene keinen einzigen dramatischen Höhe= oder Wendepunkt, sondern
Menge von erhöhtem Standpunkt herab Gesprochene unterliegt sofort
gewahren immer nur die Wirkungen der verschiedenen Niederlagen der
den ewigen, unverrückbaren, dramatischen Gesetzen. Jeder Redner wird
bäuerlichen Sache auf Leute, die nicht einmal selbst dabei waren. Es
unfehlbar langweilig, wenn seine Rede die Steigerung, die Hervor¬
scheint, als ob Hauptmann geflissentlich allen dramatischen Wirkungen,
hebung auffälliger Gegensätze, die Zuspitzung auf irgend ein zünden¬
die in dem Stoffe, wie er ihn sich zurecht gelegt hat, darinliegen,
des Wort gegen den Schlufs hin vermissen lässt. Jeder, der einmal
aus dem Wege gegangen sei. Der erste Act weist zwar eine kräftige
lyrische Gedichte oder auch Novellen vorgelesen hat, sei es auch nur
Steigerung auf und schließt auch mit einem starken Theatereffect,
vor einem ganz kleinen Kreife, weiß, dass der intimste Stimmungs¬
aber er wird doch abgebrochen, ohne dass die Spannung erregend.
reiz wirkungslos verpufft, dass sehr bald Abspannung bei den Zu¬
Wahle-Anführers-stande kämr. —Im weiten Act, als alles in¬
hörern bemerkbar wird, sobald die dramatischen Eigenschaften dem be¬
höchster Noth nach dem Helden schreit, legt dieser sich schlafen, weil
treffenden Vortragstücke abgehen. Alle dramatischen Gesetze haben sich
ihm die Sache zu dumm wird! Im dritten und vierten Act geschieht¬
eben abgeleitet aus den natürlichen Bedürfnissen der Nerven von