in den kargen Linien einer fast nur skizzirten Zeichnung ein
Meuschenleben ausschöpfen möchten. Die liebe, herzliche Wiener
Geschichte mit ihrer lichten Stimmung und ihrer sanften
Melancholie hält darum das Interesse länger fest, als der
Es ist
dramatische Gehalt derselben thun könnte.
viel Hübsches, Lebendiges darin. Das oberflächliche,
gern den
das sich von Jedem
lustige Mädel,
Tisch decken läßt und mehr Küsse hat als Gedanken, dann der
Lebens=Flaneur, der nervöse Aufregungen meidet und von
gutem Wein und bequemer Liebe mehr hält als von
pathetischen Gefühlen und heroischen Posen. Und dann in der
Hauptsache: Christine, das junge Kind aus dem Volk, in
dessen stilles Leben der Mann von Welt tritt. Ihr Erster.
Sie giebt sich ihm gleich ganz und gar. (Es zist die
intensive, wunschlose, Alles verschenkende Liebe, die aus der
ganzen Welt jeden anderen Sinn nimmt und Alles nur durch
das warme, uferlose Gefühl sieht. Das Volk von Wien
hat viel solche Mädchen, und der Dichter griff
glücklich. Hier in Berlin sahen wir zwei Darstellerinnen
50 dieser Rolle: Agnes Sorma und Adele Sandrock. Agnes Sorma
Für
1v
100 gestaltete die Figur aus dem reichen Fond ihres Gemüthes, einen
200 melancholischen Schleier leicht um die Gestalt legend. Adele par
500 Sandrock wieder mit ihrer virtuosen Nervenkunst gab ein düster #aus
„ 1000 getöntes, packendes Bild. Beiden Figuren fehlte der Lokalton.
das
Es waren wohlüberlegte, fein durchdachte und gut empfundene
den
Abonne
Figuren. Und nun kommt Hausi Niese als Dritte. Kein:
Abonne
Leichtes nach diesen beiden Künstlerinnen, zumal sie aus einem
ganz anderen Bezirk der Kunst kommt, aus der lachenden, derb¬
drolligen Welt der Posse. Wie will sie das machen? Mit
diesen Lachaugen, mit diesem Mund, um den die Funken
aller Ausgelassenheiten spielen.
und
des Ulks
Die Mizi Schlager, die Modistin, ja, das wäre was für sie.
Aber die Christine? Die stille, herzliche, traurige Christine.?
Man dachte sich Dies und Das, man kann ja transponiren und
sich von einem Instrumente Töne denken die diesem
sonst fremd. Und also: Christine betrat das Jung¬
gesellenzimmer Fritz Lobheimer's und sprach die ersten
Worte, that die ersten warmen Blicke und es war, als sehe man die
Gestalt zum ersten Male. Es war das liebe, herzige Mädel, das man
ans der Lektüre des Buches kennt. Das Volkskind, das einfache, r
volle Stück Natur. Kein Strichelchen zurechtgerechnet, kein Ton
durch einen Gedankenfilter gegangen. Und wie die Zeichnung
im Umriß, so wuchs das Bild mit vollen Farben ins Leben hin¬
über, aus dem es entnommen. Wir haben den Schluß des
zweiten Aktes machtvoller von der Sandrock gesehen, als diese
nochmals die Thür aufriß, mit starren Augen dem
die
davoneilenden Geliebten nachblickte, dann langsam
leise
Thüre schloß und an dem Ofen zusammenknickend
vor sich hin weinte. Die schlichte Herzlichkeit der Niese, ihren
Worte, die sich wie von ungefähr einstellen, ein jedes mit dem
Echo im Herzen, griffen gar tief. Welche starke und dennoch zart
geführte Linie im Schmerz, urweiblich und von einer er¬
Eine erstaunliche Unmittelbarkeit der
greifenden Reinheit.
Empfindungsäußerungen, ein freies Hervorquellen ohne jeden
künstlichen Druck. Das Zusammenbrechen bei der traurigen
Botschaft im letzten Akte, der betäubende Schlag, und der
stumme Schmerz, der dann stoßweise in zerrissenen Worten
erschütternd. Wie viel Können in
herausbrach, waren
diesem wuchtigen Naturalismus! Welch eine reiche Begabung, die
den herzlichsten Humor und die tiefste Trauer auf ihren Saiten
hat. Man war zu einem Experiment gekommen und befand sich
Aus
mitten in einem künstlerischen Sensationsereigniß.
Nacht
einer prächtigen Soubrette ist über
eine große Schauspielerin geworden, eine Gro߬
macht in der Theaterwelt, die zur Lösung großer Auf¬
gaben des Dramatischen den Adelsbrief der Kunst hat.
Und als wolle sie uns die lustige Welt, aus der sie kommt,
nochmals drastisch vor lachende Augen führen, spielte Hansi Niese
die Annie in Schnitzler's „Abschiedssonper“, Schon wie
sie die Figur faßt: Ballerine aus dem Revier der
50 Mark=Gagen mit den Allüren: Halb Nacht=Café
halb Coulisse, und darüber die Dummdreistigkeit, die sich
noch was darauf einbildet, fast ausschließlich von Sekt und
Austern zu leben. So viel Humor im Worte, Laune und Witz
in der Geste und Spaß im Blick die Niese hat, so viel schüttete
sie über die Figur. Welche Drastik und welche Natürlichkeit!
Und wo sind die Rollen für dieses Genie aus den zwei Reichen!
der Kunst? Der Beifall, den sie fand, war immens. Neben
ihr stand der prächtige, humorvolle, herzlich=natürliche Theodor
Jarno's, den wir schon vom Deutschen Theater her in bester
Erinnerung haben. Als Anatol war Herr Jarno von liebens¬
würdiger Laune. Herr Marx, die Mizi Schlager des Frl
Wirth und Frau Pagay sind hervorzuheben. Herr Reuse
war ein wenig temperamentlos. Absurd in der Maske wa
N. F. —
Herr Froböse als der „fremde Herr“.
box 10/6
5. Lieb
Seler
Telefpn 12801
∆Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
W 10U
22
Nr. 58
„OBSERVER
I. österr. behördl. concess. Bureau für Zeitungsberichte und Personalnachrichten
Wien, IX/1 Türkenstrasse 17.
Filiale ir Budapest: „Figyelör, VIII. Josefsring 31 a. —
Ausschnitt aus: Berliner Tegehlätt.,
1%
vom 4. 7. 90
F. E. Die Hansi Niese=Matinee, die gestern im Resibenz¬
theater stattfand, bedeutete einen großen künstlerischen Erfolg für
diese Schauspielerin, die man noch bis vor Kurzem nicht weit über
den Stephansplatz hinaus kannte. Sie hat wahr gemacht, was sie
nach ihrem ersten Auftreten als Mitglied des „Wiener Ensembles“ im
Thaliatheater einem Mitarbeiter unseres Blattes versprach, sie zeigte
sich uns auch im ernsten Charakterfach, und die Poffenkomikerin
hatte gleich die Kourage, hier just dasselbe zu spielen, was vor
wenigen Wochen Adele Sandrock hier spielte — ein Duell mit
Waffen, die nicht gleich schienen. Sie hat es gewagt, und sie durfte
es wagen, wie man ihr nun nach vollzogener That nachrühmen darf.
Als Christine in Schnitzlers „Liebelei“ gab sie sich so
voll von herzlichem Empfinden, und geräde im britten Akt, auf der
Höhe der Dinge, so reich an Ausdruck und vor allem so stark an
Ausdruck, daß sie nun auch die Maske der tragischen Muse in ihr
Wappen stellen kann. Freilich läßt sich nur dieser Erfolg,
nicht die Leistung im Einzelnen mit der Christine der
Sandrock in Parallele stellen. Die Sandrock sättigte auch diese
Rolle ganz mit ihrer Individualität, die Niese unterdrückte die ihre.
Sie spielte nur ganz und gar Schnitzler und gewann es sich ab,
durchaus in den verhaltenen, andeutungsweisen Ton des Autors auf¬
zugehen. Die Sandrock war schöpferischer, griff weiter aus und ver¬
allgemeinerte das kleine Einzelschicksal; diese kleine Soubrette war
aber dafür das richtige Wiener Christinchen, mit so viel weicher Liebe
und Romantik im Herzen.
Nachher gab Frl. Niese auch die zweite Rolle, die Adele Sandrock
hier mit der „Liebelei“ zusammengespielt hat, die flotte Annie in
Schnitzlers „Abschiedssouper“. Sie war vollendet als
naschhaftes, spielerisches und grundfalsches Balletkätzchen, absolut
Für
echt, absolut wienerisch und mit einem Temperament von prickelnder
Lustigkeit.
Fräulein Niese wurde sehr oft gerufen. Sie kam in guter Gesell¬s
" 10 schaft heraus; die Herren Jarno und Fräulein Wirth hatten sie
besonders glücklich unterstützt. Und als Fritz in „Liebelei“ hatte Herr das
Abon Hubert Rausch auch wieder einmal vor einem Berliner Publikum den
Avo# seine schlichte und gefestete Art zeigen können.
Meuschenleben ausschöpfen möchten. Die liebe, herzliche Wiener
Geschichte mit ihrer lichten Stimmung und ihrer sanften
Melancholie hält darum das Interesse länger fest, als der
Es ist
dramatische Gehalt derselben thun könnte.
viel Hübsches, Lebendiges darin. Das oberflächliche,
gern den
das sich von Jedem
lustige Mädel,
Tisch decken läßt und mehr Küsse hat als Gedanken, dann der
Lebens=Flaneur, der nervöse Aufregungen meidet und von
gutem Wein und bequemer Liebe mehr hält als von
pathetischen Gefühlen und heroischen Posen. Und dann in der
Hauptsache: Christine, das junge Kind aus dem Volk, in
dessen stilles Leben der Mann von Welt tritt. Ihr Erster.
Sie giebt sich ihm gleich ganz und gar. (Es zist die
intensive, wunschlose, Alles verschenkende Liebe, die aus der
ganzen Welt jeden anderen Sinn nimmt und Alles nur durch
das warme, uferlose Gefühl sieht. Das Volk von Wien
hat viel solche Mädchen, und der Dichter griff
glücklich. Hier in Berlin sahen wir zwei Darstellerinnen
50 dieser Rolle: Agnes Sorma und Adele Sandrock. Agnes Sorma
Für
1v
100 gestaltete die Figur aus dem reichen Fond ihres Gemüthes, einen
200 melancholischen Schleier leicht um die Gestalt legend. Adele par
500 Sandrock wieder mit ihrer virtuosen Nervenkunst gab ein düster #aus
„ 1000 getöntes, packendes Bild. Beiden Figuren fehlte der Lokalton.
das
Es waren wohlüberlegte, fein durchdachte und gut empfundene
den
Abonne
Figuren. Und nun kommt Hausi Niese als Dritte. Kein:
Abonne
Leichtes nach diesen beiden Künstlerinnen, zumal sie aus einem
ganz anderen Bezirk der Kunst kommt, aus der lachenden, derb¬
drolligen Welt der Posse. Wie will sie das machen? Mit
diesen Lachaugen, mit diesem Mund, um den die Funken
aller Ausgelassenheiten spielen.
und
des Ulks
Die Mizi Schlager, die Modistin, ja, das wäre was für sie.
Aber die Christine? Die stille, herzliche, traurige Christine.?
Man dachte sich Dies und Das, man kann ja transponiren und
sich von einem Instrumente Töne denken die diesem
sonst fremd. Und also: Christine betrat das Jung¬
gesellenzimmer Fritz Lobheimer's und sprach die ersten
Worte, that die ersten warmen Blicke und es war, als sehe man die
Gestalt zum ersten Male. Es war das liebe, herzige Mädel, das man
ans der Lektüre des Buches kennt. Das Volkskind, das einfache, r
volle Stück Natur. Kein Strichelchen zurechtgerechnet, kein Ton
durch einen Gedankenfilter gegangen. Und wie die Zeichnung
im Umriß, so wuchs das Bild mit vollen Farben ins Leben hin¬
über, aus dem es entnommen. Wir haben den Schluß des
zweiten Aktes machtvoller von der Sandrock gesehen, als diese
nochmals die Thür aufriß, mit starren Augen dem
die
davoneilenden Geliebten nachblickte, dann langsam
leise
Thüre schloß und an dem Ofen zusammenknickend
vor sich hin weinte. Die schlichte Herzlichkeit der Niese, ihren
Worte, die sich wie von ungefähr einstellen, ein jedes mit dem
Echo im Herzen, griffen gar tief. Welche starke und dennoch zart
geführte Linie im Schmerz, urweiblich und von einer er¬
Eine erstaunliche Unmittelbarkeit der
greifenden Reinheit.
Empfindungsäußerungen, ein freies Hervorquellen ohne jeden
künstlichen Druck. Das Zusammenbrechen bei der traurigen
Botschaft im letzten Akte, der betäubende Schlag, und der
stumme Schmerz, der dann stoßweise in zerrissenen Worten
erschütternd. Wie viel Können in
herausbrach, waren
diesem wuchtigen Naturalismus! Welch eine reiche Begabung, die
den herzlichsten Humor und die tiefste Trauer auf ihren Saiten
hat. Man war zu einem Experiment gekommen und befand sich
Aus
mitten in einem künstlerischen Sensationsereigniß.
Nacht
einer prächtigen Soubrette ist über
eine große Schauspielerin geworden, eine Gro߬
macht in der Theaterwelt, die zur Lösung großer Auf¬
gaben des Dramatischen den Adelsbrief der Kunst hat.
Und als wolle sie uns die lustige Welt, aus der sie kommt,
nochmals drastisch vor lachende Augen führen, spielte Hansi Niese
die Annie in Schnitzler's „Abschiedssonper“, Schon wie
sie die Figur faßt: Ballerine aus dem Revier der
50 Mark=Gagen mit den Allüren: Halb Nacht=Café
halb Coulisse, und darüber die Dummdreistigkeit, die sich
noch was darauf einbildet, fast ausschließlich von Sekt und
Austern zu leben. So viel Humor im Worte, Laune und Witz
in der Geste und Spaß im Blick die Niese hat, so viel schüttete
sie über die Figur. Welche Drastik und welche Natürlichkeit!
Und wo sind die Rollen für dieses Genie aus den zwei Reichen!
der Kunst? Der Beifall, den sie fand, war immens. Neben
ihr stand der prächtige, humorvolle, herzlich=natürliche Theodor
Jarno's, den wir schon vom Deutschen Theater her in bester
Erinnerung haben. Als Anatol war Herr Jarno von liebens¬
würdiger Laune. Herr Marx, die Mizi Schlager des Frl
Wirth und Frau Pagay sind hervorzuheben. Herr Reuse
war ein wenig temperamentlos. Absurd in der Maske wa
N. F. —
Herr Froböse als der „fremde Herr“.
box 10/6
5. Lieb
Seler
Telefpn 12801
∆Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
W 10U
22
Nr. 58
„OBSERVER
I. österr. behördl. concess. Bureau für Zeitungsberichte und Personalnachrichten
Wien, IX/1 Türkenstrasse 17.
Filiale ir Budapest: „Figyelör, VIII. Josefsring 31 a. —
Ausschnitt aus: Berliner Tegehlätt.,
1%
vom 4. 7. 90
F. E. Die Hansi Niese=Matinee, die gestern im Resibenz¬
theater stattfand, bedeutete einen großen künstlerischen Erfolg für
diese Schauspielerin, die man noch bis vor Kurzem nicht weit über
den Stephansplatz hinaus kannte. Sie hat wahr gemacht, was sie
nach ihrem ersten Auftreten als Mitglied des „Wiener Ensembles“ im
Thaliatheater einem Mitarbeiter unseres Blattes versprach, sie zeigte
sich uns auch im ernsten Charakterfach, und die Poffenkomikerin
hatte gleich die Kourage, hier just dasselbe zu spielen, was vor
wenigen Wochen Adele Sandrock hier spielte — ein Duell mit
Waffen, die nicht gleich schienen. Sie hat es gewagt, und sie durfte
es wagen, wie man ihr nun nach vollzogener That nachrühmen darf.
Als Christine in Schnitzlers „Liebelei“ gab sie sich so
voll von herzlichem Empfinden, und geräde im britten Akt, auf der
Höhe der Dinge, so reich an Ausdruck und vor allem so stark an
Ausdruck, daß sie nun auch die Maske der tragischen Muse in ihr
Wappen stellen kann. Freilich läßt sich nur dieser Erfolg,
nicht die Leistung im Einzelnen mit der Christine der
Sandrock in Parallele stellen. Die Sandrock sättigte auch diese
Rolle ganz mit ihrer Individualität, die Niese unterdrückte die ihre.
Sie spielte nur ganz und gar Schnitzler und gewann es sich ab,
durchaus in den verhaltenen, andeutungsweisen Ton des Autors auf¬
zugehen. Die Sandrock war schöpferischer, griff weiter aus und ver¬
allgemeinerte das kleine Einzelschicksal; diese kleine Soubrette war
aber dafür das richtige Wiener Christinchen, mit so viel weicher Liebe
und Romantik im Herzen.
Nachher gab Frl. Niese auch die zweite Rolle, die Adele Sandrock
hier mit der „Liebelei“ zusammengespielt hat, die flotte Annie in
Schnitzlers „Abschiedssouper“. Sie war vollendet als
naschhaftes, spielerisches und grundfalsches Balletkätzchen, absolut
Für
echt, absolut wienerisch und mit einem Temperament von prickelnder
Lustigkeit.
Fräulein Niese wurde sehr oft gerufen. Sie kam in guter Gesell¬s
" 10 schaft heraus; die Herren Jarno und Fräulein Wirth hatten sie
besonders glücklich unterstützt. Und als Fritz in „Liebelei“ hatte Herr das
Abon Hubert Rausch auch wieder einmal vor einem Berliner Publikum den
Avo# seine schlichte und gefestete Art zeigen können.