II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 590

Liebelei
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Die Bühnenschicksale der beiden Schnitzlerschen Stücke in Breslau
sind sehr verschiedenartig ausgefallen. Während wir von der so heiter ein¬
setzenden und tragisch endenden „Liebelei“ früher eine ganz vorzügliche,
von der übermüthig lustigen Scene „Abschiedssouper“ aus dem Anatol¬
Cyklus eine ganz ungenügende Aufführung erhielten, hat sich das Verhältniß
zwischen beiden Stücken diesmal umgekehrt. Die im letzten Berichte aus¬

gesprochene Hoffnung, unser Gast werde als Christine wie als Annie den
ihrer Darstellung beider Rollen vorausgehenden Ruf rechtfertigen, ist nur
bezüglich der letzteren in Erfüllung gegangen. Frau Niese's Vorführung
der mit ebenso gutem Appetite wie Verliebtheit ausgestatteten Balleteuse
Annie, die Anatol's Wunsch nach einer Trennung durch Eingeständniß
ihres neuen Verhältnisses zuvorkommt, war eine Prachtleistung, welche für
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die vorangehende dreiactige Langeweile eine etwas kurze, doch in der kurzen
Scene intensive Entschädigung gewährte. Wie man die „Liebelei“ in ihrer
schleppend farblosen Darstellung gar nicht wieder als dasselbe Stück er¬
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kannte, das einstens im mustergültigen Zusammenspiel der Herren Höfer und
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wonn Lettinger, Frl. Jurberg und Frau Sorma mit unwiderstehlicher Heiterkeit
Leber und wehmüthiger Theilnahme auf uns wirkte, so mußte man auch gestehen,
theiln daß wir das „Abschiedssouper“ erst jetzt in seiner übersprudelnden, etwas frechen
Laune kennen gelernt haben. Zwar wurde Frau Niese auch in dem Einacter
von den Mitspielenden nicht sonderlich unterstützt. Den klugen Freund Max
denkt man sich bei Zusammenfassung der fünf von den sieben Anatolscenen,
* in denen er mitspielt*), doch etwas anders als den bloßen Lebemann, wie
ihn Herr Marx darstellte. Herr Schlaghammer machte seine Sache recht
gut, aber der Schnitzler'sche Anatol, der liebenswürdige, leichtsinnige wiener
Don Juan der Gegenwart mit dem halbärztlichen Einschlage des psychologi¬
schen Beobachters von Typen süßer Mädels und dömonischer Frauen war
auch er nicht. Wie solche pikante Scenen im Chambre separée auch an den
Darsteller der kleinen Kellnerrolle Anforderungen stellen, hat uns ehemals
im Lobetheater der unvergeßliche Max Löwe als dienstbeflissener Kellner im
letzten Acte der „Cyprienne“ gezeigt. Den schwerfälligen Herrn Kurzbuch
mit dieser Aufgabe zu betrauen, heißt die Erfordernisse des pikanten Ein¬
acters verkennen. Aber so sehr das „Abschiedssouper“ durch glückliche Be¬
setzung der drei männlichen Rollen noch gewinnen kann, die Entscheidung
über seinen Eindruck liegt doch bei der Darstellung der Annie, und die kann
man sich nicht eindrucksvoller gespielt denken, als es durch Frau Hansi Niese
geschah. Die urwüchsige Genußfreude und geradezu naive Unbefangenheit,
welche den Gedanken an einen moralischen Maßstab der Dinge gar nicht
zu fassen vermag, ist bei der Niese'schen Annie so voll von prächtigstem
Humor durchtränkt, daß niemand so leicht diesem Zauber widerstehen kann.
Die derbe Frechheit der Balleteuse weiß Frau Niese ebenso natürlich und
lustig zum Ausdruck zu bringen wie die derbe Treuherzigkeit von Raimund's
kreuzbraver, aber frauenzimmerlich kleinlicher Rosel.
Seltsam erscheint es, daß eine Natur und Kunst so reizend vereinende
Darstellerin über die Grenzen ihrer Fähigkeit sich dermaßen täuschen kann,
daß sie die ernste träumerische Christine unter ihre Gastspielrollen aufnimmt.
Frau Niese würde die resolute Mizi Schlager, die leichtfertige Modistin
a. D., in deren Rolle jetzt Fräulein Konrad zwar ihre Vorgängerin
(Frl. Jurberg) keineswegs zu ersetzen vermochte, doch mit großem Fleiße
eine sehr anerkennenswerthe, gute Leistung bot, etwas derber, aber mit
starker humoristischer Wirkung spielen. Für die Verkörperung der Christine
fehlen ihr alle Voraussetzungen. Schon durch die erzwungene Dämpfung
und in die Höhe Pressung ihres tiefen Organs bekommt ihre Christine
etwas Erzwungenes, Unfreies. Ihre äußere Erscheinung und, was wir
über die jugendliche Christine hören, stehen mit einander in Widerspruch.
)Max tritt außer in der im Lobetheater bereits gespielten „Frage an
das Schicksal“ noch auf in „Episode", „Agonie", „Anatols Hochzeits¬
morgen“. Anatol und seine jeweilige Geliebte allein finden wir in den
Arthur Schnitzler's
„Weihnachtseinkäufen“ und in den „Denksteinen“.
„Anatol“ illustrirt von W. Coschell. Erste bis dritte Auflage. Berlin,
S. Fisches, Verlag. 1901.
Frau Niese verfügt durch ungewöhnlich frohe Geberlaune der Natur
über so viel, sie hat durch reife Kunst dies ihr verliehene Talent er¬
freulichst ausgebildet, daß sie wahrlich nicht nöthig hätte, ihre Eigenart
zu unterdrücken, um Rollen zu spielen, für welche sie die nöthige
Poesie und Tragik nun einmal nicht besitzt. Echter, kerngesunder
Humor, wie er in Frau Niese lebt, taucht unter den Bühnenkünstlern
der Gegenwart so selten auf, daß wir ihr für dessen Bewährung
dankbar genug sein würden, und nicht weiteres fordern, um an
ihrer Künstlerschaft uns bewundernd zu erfreuen. Wie schwer der wirk¬
liche Humor anzutreffen ist, hat gerade die diesmalige Aufführung der
„Liebelei“ wieder bewiesen. Daß Herr Marx ein trefflicher Komiker ist,
der mit vollem künstlerischen Ernst auch Charakterrollen auszuführen ver¬
steht, braucht man nicht erst hervorzuheben. Allein wie er früher in anders
gearteten Aufgaben neben Herrn Höfet wirkte, so vermag er auch heute
Herrn Höfer, für den sich noch immer kein Nachfolger gefunden hat, nicht
zu ersetzen. Die scharfe und spitze, wie sich auch im „Abschiedssouper“
wieder zeigte, gerne der Caricatur zustrebende Komik unseres hochgeschätzten
Herrn Marx und der behäbig abgerundete, gutmüthige Humor Höfer's sind
sehr verschiedene Eigenschaften, und man kann von einem Darsteller nicht
beide verlangen. Wer Höfer's Theodor, Lettinger's herzgewinnenden Herrn
Fritz, bei dessen Verkörperung man Christinens innige Liebe begriff, ge¬
sehen hat, wird in der Darstellung des Freundespaares durch die Herren
Marx und Schlaghammer trotz der von beiden gebotenen Leistungen
mit Bedauern einen ganz bedenklichen Rückgang unseres Schauspiels fest¬
stellen müssen. Wenn auch das Eintreten Herrn Ziegel's als des ge¬
kränkten Gatten und Herrn Müller's, der Christinens Vater natürlich
und rührend gab, einen Gewinn für diese beiden Rollen bedeutete, so
wurde doch die Gesammtdarstellung der „Liebelei“ zu einer Niederlage un¬
seres Schauspiels, ein Unrecht gegen den Dichter, dessen Werk in dieser
Entstellung gar nicht wieder zu erkennen war.