II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 651

Liebelei
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5.
Lauauau
von allen unseren Schauspielerinnen hält solch Tempo
inne, wie Frau Sorma, wer versteht so die große
Kunst des Zuhörens? ... Auch kenne ich kein
Augenpaar, das ein so geläufiges glänzendes
Volapück aller Menschenregungen spricht, wie das
der Sorma. Will man die Grenzen ihrer Begabung
suchen? Sie sind leicht zu finden in ihrer — Esther. Stellte
man an diesen Charakter die Forderung eines unverkenn¬
baren heroischen Zuges — und man muß sie stellen
angesichts der Erziehung dieses Weibes durch die
Einsamkeit, durch den steten Verkehr mit einer großen
und mit der erhabenen Seele eines Mardochai —,
9.
sagt die Sorma an dieser Grenze; nebenbei
so
auch mit ihrem Organ. Der Glanzpunkt ihrer
Estherdarstellung war von jeher der Augenblick, da
sie ihre Neigung zum König zu erkennen gibt.
ganze gestrige Vorstellung
Leider war die
der Grillparzerschen Dichtung in ein so trübes
Dunkel des Dilettantismus gehüllt, daß kein Glanz¬
punkt einen Strahl auffangen konnte, der ihn zur
Geltung gebracht hätte. Dieses klassische Fragment
(ich wünschte nur, der zehnte Teil unserer
„abendfüllenden Novitäten“ wäre weniger fragmen¬
tarisch) wurde am Berliner Theater gestern geradezu
geschändet. Man könnte nicht ohne gelinde Wut
von dieser Vorstellung sprechen, wenn man nicht ein
herzbefreiendes Lachen als letzten Trost zur Ver¬
fügung hätte. Wahrhaftig, denkt man an die un¬
verfrorene Kunst dieser Herren in der königlichen
Burg zu Susa, so fällt einem jener Dialog eines
Lahmen und eines Blinden ein: „Wie geht's?“
fragt der Blinde den Lahmen. „Wie Sie sehen,“
antwortet der Lahme, „ganz passabel“ .
Dafür war das Zusammenspiel in „Liebelei“ -
immer mit Rücksicht darauf, daß wir uns
der Charlottenstraße befinden — über Erwarten gut.
Die Herren Wulden und Wehrlin standen mit
Fräulein Rauch, die leider ihr schönes Talent mehr
dem
und mehr von der Rontine umgarnen läßt,
großen Gast hier tapfer zur Seite. Man spürte
echte Natürlichkeit bei diesen schlichten, harmlosen
groß
Dutzendmenschen, in deren Mitte plötzlich
tritt.
und geräuschlos das entsetzliche Schicksal
Sieht man Grillparzer und Schnitzler unvermittelt
nebeneinander, so erkennt man recht, daß der feine
Geist und die wohltuende Anmnt Schnitzlers der durch¬
greifenden dramatischen Linie doch innerlich fremd ist.
Er ist mehr Lyriker und Satiriker als Dramatiker. Seine
besten Gestalten sind niemals ganz ohne Mimikry. Aber
das Wesen des Dramatischen besteht nun einmal
unter anderem darin, daß die großen Charaktere
angesichts des herannahenden Raubvogels Schicksal
aufschnellen, ihn zu überfliegen trachten, während die
kleinen ihm zu entkommen suchen. Die Schnitzler¬
schen Charaktere machen es wie das graue Reb¬
huhn, das sich in die graue Ackerfurche duckt,
oder sagen wir lieber wie die Lerche, die sich wohl
aufzuschwingen weiß, sobald es gilt zu singen und
die Schönheit der Welt aus der Höhe zu betrachten.
„Liebelei“ ist ein reizendes Idyll, ein Lerchennest,
über das plötzlich eine düstere Wolke hinzieht.
Der dunkle Fitlich des Raubvogels.
Karl Strecken
Aus dem Berliner Musikleben.—
Von einigen Neuheiten.
Von Felix Weingartners Kammermusik¬
werken sind in schneller Folge zwei zu Gehör ge¬
bracht; am Sonnabend (den 7.) hat das Böh¬
mische Streichquartett ein Quartett
von ihm gespielt, am Sonntag (den 8.)
neues Sextett für Klavier,
gelangte sein
zwei Violinen, Bratsche, Violoncello und Baß
in einem populären Konzerte des Halir¬
Quartetts zur Aufführung. Beide Werke sind einer
sehr freundlichen Aufnahme beim Publikum begegnet,
insonderheit hat das Sertett schon deshalb viel
Beifall geerntet, weil der Komponist selbst den Klavier¬
part übernommen hatte. Die Wiedergabe war in
beiden Fällen ehrlicher Anerkennung wert, aber die
Schaffenskraft Weingartners wird man auch nach
SG
eine müde Selbstironie benischt, weckte sofortida
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Interesse. Und von Szene zu Szene stieg nun die
ACpeater und Mulik.
Wirkung, um so mehr, als die Darstellung, wenn
Ph. St. Im Berliner Theater hat Agnes
auch nicht vollendet, doch viel Gutes gab. Die
Sorma am gestrigen Dienstag Grillparzers
Mizi des Fräulein Rauch war sehr fesch, echt in
ihrer temperamentvollen Laune, keck und herzlich,
„Esther“ und die Christine in Schnitzlers
nur mitunter in Details etwas zu bewußt. Heer
„Liebelei“ gespielt. Es wäre für den Ein¬
Walden, in Maske und Erscheinung etwas zu nord¬
druck und die nachwirkende Kraft der Vorstellung
deutsch, im Wesen nicht weich genug, rachte im
besser gewesen, wenn man auf den Versuch mit
ganzen die Rolle des Fritz recht wirksam
Grillparzer verzichtet hätte. Ist es schon be¬
heraus; Herr Wehrlin gestaltete den Theodor mit
trübend, daß Agnes Sorma ihre künstlerische
Humor und in greifbarer Echtheit. Herr
Position aufgegeben hat und sich mit der Gast¬
Connard gab den Vater Christinens um einige
spielerei begnügt, so war es gestern geradezu
Nuancen zu alt und ward der Bonhomie des
peinlich, die Esther dieser Künstlerin zusammen¬
alten Musikus, seiner in Resignation errungenen
sehen zu müssen mit dem König des Herrn
Lebenstoleranz nicht völlig gerecht. Aber immer¬
Mischke, dem Haman des Herrn Rohland und den
hin wurde der Ton und die Stimmung des feinen
anderen Rollenverderbern. Poesie und Wesen,
Werkes gut getroffen, so daß Frau Sorma im
Sinn und tiefere Bedeutung der Dichtung
Ensemble stand. In den ersten zwei Akten
„Grillparzers wurden völlig vernichtet, nur
ist
ihre Christine, wie wir sie früher von
aus der Szene zwischen Esther und Mardochai,
ihr gesehen: das liebe, süße Mädel, dem eine ge¬
den Herr Conrad recht gut verkörperte, klang die
wisse Herbigkeit der Lebensanschauung innewohnt,
Stimmung des Werkes heraus, in den übrigen
ein junges Weib, dessen langaufgesparte und ver¬
Szenen hatte Frau Sorma ganz allein den Geist
haltene Leidenschaftlichkeit zur Tragik führt. Die
der Dichtung zu vertreten. Der große erste Auf¬
Künstlerin hat in dieser Rolle noch immer den
zug wurde so heillos verdorben, daß selbst in
gleichen Liebreiz, die gleiche Anmut, das rührend
diesem sonst so beifallssüchtigen Raum'sich keine Hand
Liebenswürdige und Liebebedürftige wie früher.
rührte; er wirkte so verstimmend und erkältend,
Im 3. Akte gestaltet sie die Rolle jetzt anders
daß selbst nach den ersten Sorma=Szenen nur
als bisher. Ihre Verzweiflung hat jetzt etwas
ganz lauer, kurzer Beifall einsetzte. Frau Sorma
Wildes, Ungezähmtes. Wie sie den Tod des Ge¬
spielte in den ersten Szenen etwas unruhig, un¬
liebten erfährt, bricht sie halb bewußtlos zusam¬
gleich in Ton und Auffassung. Das Schönste war
men mit erschütterndem Aufschrei. Die scharfe
hier ihr stummes Spiel, der naive Triumph,
Dialektik der Sätze Christinens hat bei ihr
der ihr aus den staunenden Augen blitzte, als
nicht den schrillen, schneidenden Wehlaut wie
sie die Boten des Königs vor sich knien sah. Im
sonst, alles ist umgesetzt in leidenschaftlichste
zweiten Akt, in den ersten Momenten mit dem
Verzweiflung. Oft ein Ringen mit dem
König, sprach sie die ohnedies allzu klugen Reden
Wort, ein Emporstrecken der Hände,
der Esther allzu bewußt, nicht unmittelbar genug,
ob sie irgendwo sich anklammern möchte in ihrer
nicht recht aus der Eingebung des Augenblicks
feelischen und körperlichen Erschütterung. B
heraus: es fehlte der Schein des Instinktiven, es
blicken die Augen, der Mund ist geöffnet wie zu
klang alles wie Berechnung. Ihre große Künstler¬
einem lauten, befreienden Aufschrei, als ob sie er¬
schaft ward erst offenbar, als in Esther das Weib
sticken müßte. Und doch ringt sich kein Laut aus
erwacht und sie sich ihrer Empfindung für den
der vom Schmerz zugeschnürten Kehle. So stürmt
König in jähem Erschrecken bewußt wird.
diese Christine foct und „sie kommt nicht wieder",
Das Publikum war bereits ziemlich müde, als
sagt der alte Vater.
Schnitzlers „Liebelei“ begann. Aber das noch
Als Christine hat die Künstlerin gefesselt,
immer unverändert jugendfrische Werk des Anatol¬
ergriffen, erschüttert
es war eine starke, reife
Dichters, diese liebe Schöpfung einer stillen, weh¬
mütigen Poesie, der sich ein feiner Humor und 1 Schöpfung. Der Beifall war sehr lebhaft und