5.
Liebelei
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Singstimme beginnt ein Liedchen zu trällern. Aber nur zwei, drei,
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vier Takte lang. Die zweite Gruppe von Takten, die „Antwort:
in der melodischen Phrase fehlt bereits. Weil die Worte
Schnitzlers, wenn sie sinngemäß und sprachrichtig deklamiert
werden, den schematischen Bau durchaus verwehren. Weil ihr
Inhalt und ihr Tonfall weiter drängt. Ein Thema, eine
Melodie müssen verweilen, wiederholen. Das ist hier nicht
möglich. Auch das Orchester kann nichts aufbauen und aus¬
bauen, wenn es sklavisch den Worten des Dichters, der Schnitz¬
lerschen Prosa folgen muß. Alles zerflattert wieder, setzt von
neuem ein, erweckt neue Hoffnung, zerstört auch diese, wir
werden von einer musikalischen Enttäuschung zur andern gehetzt,
bis zu den tragischen Höhepunkten, wo das Aufleuchten
glänzender Töne in den Singstimmen, die große Steigerung im
Orchester und vor allem die dramatische Situation uns endlich
eine Arie, ein Duett zu verheißen scheinen — aber auch diese
letzte Verheißung trügt, es kommt nur zu ein paar aufgeregten
Melismen und pathetischen Schreien mit Anklängen an den
„Bajazzo“, nicht zu wirklichem Gesang. Wagner ist der reinste
Verdi, Leoncavallo ein unverfälschter Donizetti im Vergleich zu
Neumann, der lieber sprechen als singen lassen möchte, manchmal
wirklich bloß sprechen läßt, und dessen orchestrale Einfälle (nicht
übel, aber unbedeutend) dennoch fortwährend, in Übereinstimmung
mit dem Drama, das Sinnliche, das Anmutige, das Wienerisch¬
Gefällige auszudrücken suchen. Eine sonderbare Art des musi¬
kalischen Liebesgenusses — dieses Anpacken und Entgleitenlassen,
dieses Aufzucken und Ermatten
die sich nur durch Impotenz
oder Perversität erklären läßt.
Wie konnte Schnitzler seine Zustimmung zu dieser Ent¬
stellung seines Werkes geben? Aber freilich, der Stoff und das
Stück wirken auch so, wirken zum mindesten auf das empfäng¬
liche Publikum der Volksoper, das, verstärkt durch die Freunde
und Verehrer Schnitzlers, der sich für Neumann ausgesprochen
hatte, diesem und der Christine des Fräuleins Engel und der
tüchtigen Gesamtdarstellung wenigstens bei der Erstaufführung
das Werk ist in Deutschland schon
(nicht Uraufführung
bekannt) einen äußeren Erfolg bereitete.
Deutsches Volkstheater. Zum ersten Male: „Musik“,*) Sittengemälde
in vier Bildern von Frank Wedekind.
Dem Deutschen Volkstheater scheinen endlich bessere Tage
beschieden zu sein. Nun hat es nach dem Kassenerfolg der
Schönen Frauen“ auch der Literatur seine Reverenz erwiesen
und mit Wedekind einen ehrlichen und prächtigen Sieg errungen.
Noch vor etwa vier Jahren, als im Lustspieltheater seine „Musik“.
*) Vergleiche hiezu auch die Einführung in dieses Drama im vorigen
Heft der „Wage“.
Liebelei
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Singstimme beginnt ein Liedchen zu trällern. Aber nur zwei, drei,
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vier Takte lang. Die zweite Gruppe von Takten, die „Antwort:
in der melodischen Phrase fehlt bereits. Weil die Worte
Schnitzlers, wenn sie sinngemäß und sprachrichtig deklamiert
werden, den schematischen Bau durchaus verwehren. Weil ihr
Inhalt und ihr Tonfall weiter drängt. Ein Thema, eine
Melodie müssen verweilen, wiederholen. Das ist hier nicht
möglich. Auch das Orchester kann nichts aufbauen und aus¬
bauen, wenn es sklavisch den Worten des Dichters, der Schnitz¬
lerschen Prosa folgen muß. Alles zerflattert wieder, setzt von
neuem ein, erweckt neue Hoffnung, zerstört auch diese, wir
werden von einer musikalischen Enttäuschung zur andern gehetzt,
bis zu den tragischen Höhepunkten, wo das Aufleuchten
glänzender Töne in den Singstimmen, die große Steigerung im
Orchester und vor allem die dramatische Situation uns endlich
eine Arie, ein Duett zu verheißen scheinen — aber auch diese
letzte Verheißung trügt, es kommt nur zu ein paar aufgeregten
Melismen und pathetischen Schreien mit Anklängen an den
„Bajazzo“, nicht zu wirklichem Gesang. Wagner ist der reinste
Verdi, Leoncavallo ein unverfälschter Donizetti im Vergleich zu
Neumann, der lieber sprechen als singen lassen möchte, manchmal
wirklich bloß sprechen läßt, und dessen orchestrale Einfälle (nicht
übel, aber unbedeutend) dennoch fortwährend, in Übereinstimmung
mit dem Drama, das Sinnliche, das Anmutige, das Wienerisch¬
Gefällige auszudrücken suchen. Eine sonderbare Art des musi¬
kalischen Liebesgenusses — dieses Anpacken und Entgleitenlassen,
dieses Aufzucken und Ermatten
die sich nur durch Impotenz
oder Perversität erklären läßt.
Wie konnte Schnitzler seine Zustimmung zu dieser Ent¬
stellung seines Werkes geben? Aber freilich, der Stoff und das
Stück wirken auch so, wirken zum mindesten auf das empfäng¬
liche Publikum der Volksoper, das, verstärkt durch die Freunde
und Verehrer Schnitzlers, der sich für Neumann ausgesprochen
hatte, diesem und der Christine des Fräuleins Engel und der
tüchtigen Gesamtdarstellung wenigstens bei der Erstaufführung
das Werk ist in Deutschland schon
(nicht Uraufführung
bekannt) einen äußeren Erfolg bereitete.
Deutsches Volkstheater. Zum ersten Male: „Musik“,*) Sittengemälde
in vier Bildern von Frank Wedekind.
Dem Deutschen Volkstheater scheinen endlich bessere Tage
beschieden zu sein. Nun hat es nach dem Kassenerfolg der
Schönen Frauen“ auch der Literatur seine Reverenz erwiesen
und mit Wedekind einen ehrlichen und prächtigen Sieg errungen.
Noch vor etwa vier Jahren, als im Lustspieltheater seine „Musik“.
*) Vergleiche hiezu auch die Einführung in dieses Drama im vorigen
Heft der „Wage“.