5. Liebelei
. box 12/5
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chnitt aulfünchener Neueste Nachrichten
München
31.349l.1911
□
„Liebelei“ im Film
*Also ist jetzt auch die „Liebelei“ von dem be¬
liebten und einträglichen Mißgeschicke der Ver¬
filmung ereilt worden. Man muß ein rechter
Wiener sein, um das sonderbare Unbehagen mit¬
zufühlen, das da in unserer Seele aufsteigt. Denn
für die anderen ist dies doch wohl nur ein hüb¬
sches, anmutiges, ein bißchen sehr sentimentales
Spiel, uns aber bedeutet es menschlich mehr:
Einen Ausdruck unseres innersten Seins, etwas
durchaus Inübersetzbares, eine rührende Erinne¬
rung an eine zarte Jugend. Und wir erleben für
einen Augenblick den unvergeßlichen Abend,
im Wiener Burgtheater die Dichtung zum ersten
Male die tiefen Augen aufschlug. Zwei Stunden
waren es, und am nächsten Tage war Artur
Schnitzler, bisher nur von ein paar hundert
Connaisseurs geschätzt, berühmt. Doch das wäre
verdammt wenig: Er war mehr ... geliebt. Denn
dieser beschattete Uebermut, diese zerbrechliche
terkeit der Jugend, in die jählings das Ver¬
hängnis schritt, all dies waren wir, waren Augen¬
blicke, die Geheimstes enthüllten. Ein paar
kleine Mädel aus der Vorstadt, ein fröhliches und
ein inniges, zwei junge Männer aus dem wohl¬
habenden Bürgertum, ein heiterer Abend in der
Gargonwohnung, ein fremder Herr, der eintritt,
dem einen jungen Menschen die Liebesbriefe zu¬
schleudert, die er bei seiner Gattin gefunden hat.
Und dann ahnt der Jüngling auch, es ist aus,
und er nimmt Abschied von seinem ahnungslosen
„süßen Mädel“. Sieht die kleine Wohnung im
alten Hause, blickt hinaus auf den Kahlenberg
Schmerzlich freut
durch die weißen Jalousien.
sie sich seines ersten und letzten Besuches, weiß nicht,
dies ist das Ende. Und er ahnt wohl, hier wäre
Sicherheit und echte Liebe. nicht bei diesem Aben¬
teuer, das ihn morgen früh vor die Pistole stellt.
All dies wird nicht ausgesprochen, kein Wort be¬
fleckt den Zauber jener Stimmung, und wie nach¬
her der Jüngling fällt, wie es das Mädel er¬
fährt, da ist dies ihr tiefster Schmerz, daß er für
eine andere starb, ihr nichts sagte. daß sie bloß
eine Liebelei war. Die Beleidigung seines
schweigenden Sterbens für eine andere, die Treu¬
losigkeit zerbricht sie.
Die bittere Süßigkeit jener Szenen, ihre halbe,
gebrochene Stimmung wird nunmehr elektrisch be¬
trieben, gehört der Flimmerleinwand und der
Mechanik. Es sei vorausbemerkt, daß der Film
sehr gelungen und — in den Grenzen des Kinos
auch sehr geschmackvoll ist. Daß wir statt Wien!
Veduten aus Kopenhagen sehen schmerzt wenig:
Die alte, feine, dänische Barockstadt gibt immer¬
hin verwandte Stimmung. Schmerzlicher empfin¬
den wir, wie alles Feinere unbarmherzig verwischt
wird, verwischt werden muß. Das Kino kennt ja
keine Vorgeschichte, und so wird alles, was früher
unserer Phantasie gehörte, peinlich deutlich. Wir
sehen also, wie die beiden jungen Leute und die
beiden Mädchen sich auf der Tanzstunde kennen
lernen. Wir sehen Fritz in der Loge mit der
anderen und mit ihrem eifersüchtigen Gatten,
gucken mit ihnen auf die Bühne, erleben ihr
Rendezvous mit, beobachten unten den wartenden
betrogenen Gatten, und auch das Duell bleibt
uns natülich nicht erspart, nicht die alten Bäume,
in deren Schatten der Jüngling sein Blut aus¬
strömt. Und — es ist damit etwas durchaus
anderes geworden, das einen lieben Namen pro¬
faniert. Wie dieser „fremde Herr“ eintrat in die
Heiterkeit der Liebespaare, wie damals Mitter¬
wurzer mit dem roten, hassenden Blicke der ver¬
wundeten Giftschlange den Jüngling ansprang,
waren wir gepackt, er kam und tötete. Hier ist's
erklärt, ausgeführt, sauber banalisiert, und der
Schänder ist fort. Fort auch die Ahnung des
Jünglings bei seinem letzten Besuche im klein¬
bürgerlichen Heime der Geliebten, daß hier sein
stilles Glück bereit stehe und vergeblich auf ihn
warte, fort die tiese Beleidigung seines Todes,
die ironische Verschlungenheit der Tragik für die
arme Christine. Und wir lesen betrübt lächelnd,
daß der „Lokalwechsel dem inneren Werte des
Dramas keinen Abbruch getan hat“, wie das
Programm behauptet. Ach ja, der Lokalwechsel
von Kopenhagen nach Wien. Aber der andere
Lokalwechsel, jener aus dem Worte auf die Lein¬
wand, der ist doch viel gefährlicher, und er kann
die wundervollste Stinnerung töten.
Bei dem Lokalwechsel sind alle trivialen Vor¬
gänge übersiedelt, nur die Seele nicht. Die blieb
im Schauspiel, blieb bei seiner Jugend und in
jenen wundervollen Tagen, da es noch keine
„Liebelei im Film“ gab.
Ludwig Bauer
Wien
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chnitt aulfünchener Neueste Nachrichten
München
31.349l.1911
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„Liebelei“ im Film
*Also ist jetzt auch die „Liebelei“ von dem be¬
liebten und einträglichen Mißgeschicke der Ver¬
filmung ereilt worden. Man muß ein rechter
Wiener sein, um das sonderbare Unbehagen mit¬
zufühlen, das da in unserer Seele aufsteigt. Denn
für die anderen ist dies doch wohl nur ein hüb¬
sches, anmutiges, ein bißchen sehr sentimentales
Spiel, uns aber bedeutet es menschlich mehr:
Einen Ausdruck unseres innersten Seins, etwas
durchaus Inübersetzbares, eine rührende Erinne¬
rung an eine zarte Jugend. Und wir erleben für
einen Augenblick den unvergeßlichen Abend,
im Wiener Burgtheater die Dichtung zum ersten
Male die tiefen Augen aufschlug. Zwei Stunden
waren es, und am nächsten Tage war Artur
Schnitzler, bisher nur von ein paar hundert
Connaisseurs geschätzt, berühmt. Doch das wäre
verdammt wenig: Er war mehr ... geliebt. Denn
dieser beschattete Uebermut, diese zerbrechliche
terkeit der Jugend, in die jählings das Ver¬
hängnis schritt, all dies waren wir, waren Augen¬
blicke, die Geheimstes enthüllten. Ein paar
kleine Mädel aus der Vorstadt, ein fröhliches und
ein inniges, zwei junge Männer aus dem wohl¬
habenden Bürgertum, ein heiterer Abend in der
Gargonwohnung, ein fremder Herr, der eintritt,
dem einen jungen Menschen die Liebesbriefe zu¬
schleudert, die er bei seiner Gattin gefunden hat.
Und dann ahnt der Jüngling auch, es ist aus,
und er nimmt Abschied von seinem ahnungslosen
„süßen Mädel“. Sieht die kleine Wohnung im
alten Hause, blickt hinaus auf den Kahlenberg
Schmerzlich freut
durch die weißen Jalousien.
sie sich seines ersten und letzten Besuches, weiß nicht,
dies ist das Ende. Und er ahnt wohl, hier wäre
Sicherheit und echte Liebe. nicht bei diesem Aben¬
teuer, das ihn morgen früh vor die Pistole stellt.
All dies wird nicht ausgesprochen, kein Wort be¬
fleckt den Zauber jener Stimmung, und wie nach¬
her der Jüngling fällt, wie es das Mädel er¬
fährt, da ist dies ihr tiefster Schmerz, daß er für
eine andere starb, ihr nichts sagte. daß sie bloß
eine Liebelei war. Die Beleidigung seines
schweigenden Sterbens für eine andere, die Treu¬
losigkeit zerbricht sie.
Die bittere Süßigkeit jener Szenen, ihre halbe,
gebrochene Stimmung wird nunmehr elektrisch be¬
trieben, gehört der Flimmerleinwand und der
Mechanik. Es sei vorausbemerkt, daß der Film
sehr gelungen und — in den Grenzen des Kinos
auch sehr geschmackvoll ist. Daß wir statt Wien!
Veduten aus Kopenhagen sehen schmerzt wenig:
Die alte, feine, dänische Barockstadt gibt immer¬
hin verwandte Stimmung. Schmerzlicher empfin¬
den wir, wie alles Feinere unbarmherzig verwischt
wird, verwischt werden muß. Das Kino kennt ja
keine Vorgeschichte, und so wird alles, was früher
unserer Phantasie gehörte, peinlich deutlich. Wir
sehen also, wie die beiden jungen Leute und die
beiden Mädchen sich auf der Tanzstunde kennen
lernen. Wir sehen Fritz in der Loge mit der
anderen und mit ihrem eifersüchtigen Gatten,
gucken mit ihnen auf die Bühne, erleben ihr
Rendezvous mit, beobachten unten den wartenden
betrogenen Gatten, und auch das Duell bleibt
uns natülich nicht erspart, nicht die alten Bäume,
in deren Schatten der Jüngling sein Blut aus¬
strömt. Und — es ist damit etwas durchaus
anderes geworden, das einen lieben Namen pro¬
faniert. Wie dieser „fremde Herr“ eintrat in die
Heiterkeit der Liebespaare, wie damals Mitter¬
wurzer mit dem roten, hassenden Blicke der ver¬
wundeten Giftschlange den Jüngling ansprang,
waren wir gepackt, er kam und tötete. Hier ist's
erklärt, ausgeführt, sauber banalisiert, und der
Schänder ist fort. Fort auch die Ahnung des
Jünglings bei seinem letzten Besuche im klein¬
bürgerlichen Heime der Geliebten, daß hier sein
stilles Glück bereit stehe und vergeblich auf ihn
warte, fort die tiese Beleidigung seines Todes,
die ironische Verschlungenheit der Tragik für die
arme Christine. Und wir lesen betrübt lächelnd,
daß der „Lokalwechsel dem inneren Werte des
Dramas keinen Abbruch getan hat“, wie das
Programm behauptet. Ach ja, der Lokalwechsel
von Kopenhagen nach Wien. Aber der andere
Lokalwechsel, jener aus dem Worte auf die Lein¬
wand, der ist doch viel gefährlicher, und er kann
die wundervollste Stinnerung töten.
Bei dem Lokalwechsel sind alle trivialen Vor¬
gänge übersiedelt, nur die Seele nicht. Die blieb
im Schauspiel, blieb bei seiner Jugend und in
jenen wundervollen Tagen, da es noch keine
„Liebelei im Film“ gab.
Ludwig Bauer
Wien