Liebele
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5. —1
—2. 3. 1978
WIENER AbENEPOST
Theater und Kunst.
(Hofburgtheater.) In der neueinstudierten
Liebelei" Schnitzlers stand Alexander Girardis
Weyring, so fehr#er sich auch bemühte, nicht hervor¬
zutreten, im Vordergründe des Interesses und im
Mittelpunkte der Darstellung. Und rührend war's,
unendlich rührend war's! Zart und verhalten sein
Fühlen für das Kind und doch innig jeder Ton und
Blick, namentlich beim Abschied und in der angstvollen
Sorge, sie die surchtbare Katastrophe nicht wissen zu
lassen. Fast erschien er gelegentlich zu diskret, zu
zurückhaltend, die Erzählung von der Schwester
vertrüge vielleicht etwas mehr Sonne, der
Ausruf des Schlusses: „Sie kommt nicht wieder“
stärkere Akzentuierung. Die ganze Vorstellung
ist im Ton unsicher, sie weiß nicht recht, soll sie das
Werk, das nach wie vor seine tiefe Wirkung übt, als
Burgtheater= oder Volkstheaterstück geben. Derb und
frisch greisen Herr Lackner und Frl. Kutschera
zu; aber der erste überschreitet dabei doch die gesell¬
schaftliche Sphäre, der der junge elegante S##dent
angehört, die andere wird etwas allzu lärmend,
munter und zappelig; Frau Medelsky wieder
bringt den ersten Teil in verhaltener Innigkeit, die
bis zur völligen Farblosigkeit sich steigert, um mit
der großen Schlußszene in einen wahrhaftig hysteri“
schen Anfall auszubrechen, über den sie jede B7
herrschung der künstlerischen Mittel verliert.
A. v. W/
—— —
2
#. 1310
Wen
Theater, Kunft und Literatur.
Wien, 2. März.
Burgtheater.
Von Naimund zu Schnitzler. Daß das Burgtheater
innerhalb vierzehn Tagen diefen Weg zurückgelegt hat,
mag dem äußeren Zufall angehören. Immerhin konnten
kaum auf eindringlichere Weise Unterströmungen der
Tradition erwiesen werden. Die (aus dem allegorischen
Beiwerk gelöste) Poesie des schlichten Menschentums, welche
des Oesterreichers #imund wundervolles Vermächtnis
ist, schlägt nach 70 Jahren des Schlafes ihre tiefen Augen¬
wieder auf. Ein junger, noch wenig bekannter Dichter
schreibt im Jahre 1894 das Schauspiel „Liebelei“. Da¬
mals war das Raimund=Theater erbaut worden. Man
wollte unter diesem symbolisch gewordenen Namen dem
erloschenen Volksstück einen neuen Boden bereiten. An¬
gesagte Literaturprogramme aber versagen stets wie an¬
gesagte Revolutionen. Es gibt ebensowenig eine „Pflege
des Volksstückes“, als es eine Pflege der Wald=, Wiesen= und
Bergslora, aller wildsüßen Blüten eines besonderen Land¬
striches geben kann. Weshalb wachsen auf den Abhängen
des Bisambeeges Blumen, die dieses Stückchens Erde
Alleinbesitz sind? (Wie in der Botanik zu lesen ist.)
Warum auf den Wiesen des Kaltenleutgebener Hügellandes
eine Orchidecnart, die nur in diesem Himmelsstrich der
Sonne innig Antwort gibts Gleiches Geheimnis natur¬
hafter Kräfte waltet um die Atmosphäre der geistigen
Zeugung völkischer Dichtungsart, die Menschen erblühen
läßt, wie sie an einem einzigen Plätzchen der weiten Welt¬
einzig gedeihen. Einzigartige Menschen, und doch wieder
durch ihre ungetrübte Wesenhaftigkeit dem Allmenschentum
zu tiefst verbunden. So sind Gestalten unserer echten
Volksdichter Wurzeltriebe dieser österreichischen Erde und
sind doch noch anderes. Sind Sager und Sänger des
Ewigkeitszuges. Der Liebe, des Glückes
der Träne,
des Todes!
Und es kam, daß Raimunds Werk nicht im Raimund¬
Theater den Fortsetzer fand, sondern daß sich das Volks¬
stück sein neues Recht (dem Recht, mit dem wir geboren
sind,) im Burgtheater erschlich. Weil dort im Jahre 1896
Artur Schnitzlers Schauspiel „Liebelei“ zur ersten Auf¬
führung gelangte. Damals, zu Burckbardts Zeiten, empfand
die Kennerschaft in diesem Stück Talent, Originalität,
Können, Seele, Bühnenwirksamkeit. Zum Volksstück
erlesener Volksart ist es erst ganz von selbst nach zwanzig
Jahren geworden. Bis Distanz das Pittoreske der Kon¬
turen zu Klassizität rundete und das Schlagwort des
Tages als das Wahrwort einer Menschenart ge¬
blieben ist. Christine! Kleine, seltsame Orchidee des
Wienerwaldes. Mit dem duftenden Herzen. Bis zu dem
Tage, als ein Dichter dich sah und pflückte, haben die
Menschen nichts von dir gewußt, jetzt aber gehörst du zu
den lieben Hausgöttern dieses Landes und aller Liebenden
der Welt. Du bist Wahrheit und Symbol. Du bist zu
höherer Unwirklichkeit — wirklich. Bist Körper und Traum.
Bist Melodie. Man könnte dich als eines Dichters leiden¬
schaftliches Erlebnis erkennen. Aber du bist mehr als erlebt.
Du bist durchlebt! Diese Züge edler Sanftmut, weicher Hin¬
gebung, lässiger Anmut, sinnlich träumerischer Glut und
lauiloser Glückserwartung sind nicht eines Einzelnen
Besitz. Sondern eines Volkes, diesem Einen anvertrautes
Seelengut.
Und ist doch nicht einzig nur Form gewordener
Typus einer Volksart. Denn Christine gehört zu der
großen, weitverzweigten Familie jener Gestalten, die die
Persönlichkeitsmarke eines Schöpferischen krönt. Nicht
anders als mit Familienähnlichkeiten ist ja die Wesens¬
erinnerung zu kennzeichnen, mit der Natur irgendwie
Menschen oft verbindet, über Grenzen von Zeit und Raum
hinweg. So ruht auch der Kreis eines schöpferischen
Lebensgestalters in dunklen Verbundenheiten verstrickt.
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WIENER AbENEPOST
Theater und Kunst.
(Hofburgtheater.) In der neueinstudierten
Liebelei" Schnitzlers stand Alexander Girardis
Weyring, so fehr#er sich auch bemühte, nicht hervor¬
zutreten, im Vordergründe des Interesses und im
Mittelpunkte der Darstellung. Und rührend war's,
unendlich rührend war's! Zart und verhalten sein
Fühlen für das Kind und doch innig jeder Ton und
Blick, namentlich beim Abschied und in der angstvollen
Sorge, sie die surchtbare Katastrophe nicht wissen zu
lassen. Fast erschien er gelegentlich zu diskret, zu
zurückhaltend, die Erzählung von der Schwester
vertrüge vielleicht etwas mehr Sonne, der
Ausruf des Schlusses: „Sie kommt nicht wieder“
stärkere Akzentuierung. Die ganze Vorstellung
ist im Ton unsicher, sie weiß nicht recht, soll sie das
Werk, das nach wie vor seine tiefe Wirkung übt, als
Burgtheater= oder Volkstheaterstück geben. Derb und
frisch greisen Herr Lackner und Frl. Kutschera
zu; aber der erste überschreitet dabei doch die gesell¬
schaftliche Sphäre, der der junge elegante S##dent
angehört, die andere wird etwas allzu lärmend,
munter und zappelig; Frau Medelsky wieder
bringt den ersten Teil in verhaltener Innigkeit, die
bis zur völligen Farblosigkeit sich steigert, um mit
der großen Schlußszene in einen wahrhaftig hysteri“
schen Anfall auszubrechen, über den sie jede B7
herrschung der künstlerischen Mittel verliert.
A. v. W/
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#. 1310
Wen
Theater, Kunft und Literatur.
Wien, 2. März.
Burgtheater.
Von Naimund zu Schnitzler. Daß das Burgtheater
innerhalb vierzehn Tagen diefen Weg zurückgelegt hat,
mag dem äußeren Zufall angehören. Immerhin konnten
kaum auf eindringlichere Weise Unterströmungen der
Tradition erwiesen werden. Die (aus dem allegorischen
Beiwerk gelöste) Poesie des schlichten Menschentums, welche
des Oesterreichers #imund wundervolles Vermächtnis
ist, schlägt nach 70 Jahren des Schlafes ihre tiefen Augen¬
wieder auf. Ein junger, noch wenig bekannter Dichter
schreibt im Jahre 1894 das Schauspiel „Liebelei“. Da¬
mals war das Raimund=Theater erbaut worden. Man
wollte unter diesem symbolisch gewordenen Namen dem
erloschenen Volksstück einen neuen Boden bereiten. An¬
gesagte Literaturprogramme aber versagen stets wie an¬
gesagte Revolutionen. Es gibt ebensowenig eine „Pflege
des Volksstückes“, als es eine Pflege der Wald=, Wiesen= und
Bergslora, aller wildsüßen Blüten eines besonderen Land¬
striches geben kann. Weshalb wachsen auf den Abhängen
des Bisambeeges Blumen, die dieses Stückchens Erde
Alleinbesitz sind? (Wie in der Botanik zu lesen ist.)
Warum auf den Wiesen des Kaltenleutgebener Hügellandes
eine Orchidecnart, die nur in diesem Himmelsstrich der
Sonne innig Antwort gibts Gleiches Geheimnis natur¬
hafter Kräfte waltet um die Atmosphäre der geistigen
Zeugung völkischer Dichtungsart, die Menschen erblühen
läßt, wie sie an einem einzigen Plätzchen der weiten Welt¬
einzig gedeihen. Einzigartige Menschen, und doch wieder
durch ihre ungetrübte Wesenhaftigkeit dem Allmenschentum
zu tiefst verbunden. So sind Gestalten unserer echten
Volksdichter Wurzeltriebe dieser österreichischen Erde und
sind doch noch anderes. Sind Sager und Sänger des
Ewigkeitszuges. Der Liebe, des Glückes
der Träne,
des Todes!
Und es kam, daß Raimunds Werk nicht im Raimund¬
Theater den Fortsetzer fand, sondern daß sich das Volks¬
stück sein neues Recht (dem Recht, mit dem wir geboren
sind,) im Burgtheater erschlich. Weil dort im Jahre 1896
Artur Schnitzlers Schauspiel „Liebelei“ zur ersten Auf¬
führung gelangte. Damals, zu Burckbardts Zeiten, empfand
die Kennerschaft in diesem Stück Talent, Originalität,
Können, Seele, Bühnenwirksamkeit. Zum Volksstück
erlesener Volksart ist es erst ganz von selbst nach zwanzig
Jahren geworden. Bis Distanz das Pittoreske der Kon¬
turen zu Klassizität rundete und das Schlagwort des
Tages als das Wahrwort einer Menschenart ge¬
blieben ist. Christine! Kleine, seltsame Orchidee des
Wienerwaldes. Mit dem duftenden Herzen. Bis zu dem
Tage, als ein Dichter dich sah und pflückte, haben die
Menschen nichts von dir gewußt, jetzt aber gehörst du zu
den lieben Hausgöttern dieses Landes und aller Liebenden
der Welt. Du bist Wahrheit und Symbol. Du bist zu
höherer Unwirklichkeit — wirklich. Bist Körper und Traum.
Bist Melodie. Man könnte dich als eines Dichters leiden¬
schaftliches Erlebnis erkennen. Aber du bist mehr als erlebt.
Du bist durchlebt! Diese Züge edler Sanftmut, weicher Hin¬
gebung, lässiger Anmut, sinnlich träumerischer Glut und
lauiloser Glückserwartung sind nicht eines Einzelnen
Besitz. Sondern eines Volkes, diesem Einen anvertrautes
Seelengut.
Und ist doch nicht einzig nur Form gewordener
Typus einer Volksart. Denn Christine gehört zu der
großen, weitverzweigten Familie jener Gestalten, die die
Persönlichkeitsmarke eines Schöpferischen krönt. Nicht
anders als mit Familienähnlichkeiten ist ja die Wesens¬
erinnerung zu kennzeichnen, mit der Natur irgendwie
Menschen oft verbindet, über Grenzen von Zeit und Raum
hinweg. So ruht auch der Kreis eines schöpferischen
Lebensgestalters in dunklen Verbundenheiten verstrickt.