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Liebel
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IX. Jahrgang Berlin W. 6: MHUN Wien VI. — Prag H. Nr. 23
Stellung eines Gesandten bekleidete, daselbst eine
Die fünf ersten Auflagen dieses Werkes sind
große Rolle zu spielen bestimmt war. Gemeinsam
vergriffen, was wohl als bester Beweis für seine
mit der Kaiserin Eugenie erfand sie die neuen Moden.
Brauchbarkeit dienen mag. Sein ganz besonderer
Sie wußte ganz gut, daß man sie im Publikum als
Vorzug vor allen ähnlichen Werken liegt darin, daß
„La belie laide“ bezeichnete; allein dieser Spitzname
es eine große Auswahl von 64 Schnittmustern der
erhöhte nur ihre Beliebtheit bei Hofe, wie ihre Popu¬
Herren- und Damen-Leibwäsche in natürlicher Größe,
larität in der Bevölkerung von Paris. —
also bereits ausgeschnitten bietet, und daß an der
Hand der beigegebenen gedruckten leichtfaßlichen
Die Wienerin, obgleich sie deutsch spricht, denkt
Anleitung jede Braut und Hausfrau ihre Wäsche selbst
und empfindet, ist doch keine Vollblutdeutsche, keine
zuschneiden und anfertigen kann. Die 6. Auflage ist
echte Germanin, wie die Berlinerin, oder überhaupt
einer gründlichen Durchsicht unterzogen worden,
eine Deutsche von rein deutscher Abkunft; denn in
manche Verbesserungen wurden hierbei gemacht und
ihr findet häufig eine Rassenmischung statt. Man
Neues hinzugefügt. Um den Anforderungen der Zeit
weiß, wie verschiedenartige Volksstämme zu Oester¬
nach „Verbesserung der Frauenkleidung“ gerecht zu
reich gehören. Da ist eine Rassenkreuzung geradezu
werden, sind in die neue Auflage Muster sowohl als
unvermeidlich; meist zum Vorteil eines neuen Ge¬
auch Anleitung zur „Reformwasche“ aufgenommen
schlechts. Der österreichische Offizier oder Beamte
worden, wodurch die Verfasserinnen, deren Namen
lernt berufsmäßig einen Teil der Monarchie kennen.
und Leistungen hinlänglich bekannt und geschätzt
Und dabei ganz verschiedene Repräsentantinnen des
sind, sich ein besonderes Verdienst erworben haben.
weiblichen Geschlechts. Der eine fühlt sich vom
Mögen sich den vielen Tausenden von „fleißigen
Zauber der Polin gefangen genommen, ein zweiter
Händen“, die die praktischen Ratschläge und Finger¬
von der Schönheit der Italienerin, ein dritter von der
zeige der Verfasserinnen sich zu nutze machten, in¬
Ursprünglichkeit einer Tirolerin. Diesen Ehen ent¬
folge der 6. Auflage noch weitere Tausende zuge¬
sprießen Töchter, welche in Wien erzogen „Wiene¬
sellen. Das Ganze befindet sich in eleganter Mappe
rinnen“ sind, ihre sogenannte Vaterstadt vielleicht
und kostet nur M 4.—.
nie verlassen haben und echt wienerischen Dialekt
sprechen. —
eiseeseaesse
Dieser Wiener Dialekt, wenn er nicht künstlich
nachgeahmt, sondern natürlich gesprochen wird und
AUS BADERN
nicht zu sehr ins Triviale fällt, ist eine angenehme
Sprechweise, geradezu „mollig“ wie die zartgerundeten
dseteksaesesaaseee
Körperformen der Wienerin. Selbstverständlich gibt
Hoher Besuch.
es eine ganze Staffelleiter der Wiener Sprechweise,
wie dies ja überall in den Großstädten der Fall ist.
Am 5. Aug. nachmittags Leehrte Gräfin Stephanie
Daß dies in Wien in noch erhöhterem Maße der
Lönyay, Prinzessin von Belgien, per Automobil von
Kavlsbad kommend, woselbst sie zum Kurgebrauche
Das „Wienerische“ einer gebildeten Frau wird
weilt, in Begleitung ihrer Hofdame Baronin Gagern
sich naturgemaß sehr scharf von der Ausdrucksweise
und (des amerikanischen Konsuls Watjen und dessen
einer Frau Nanni vom Naschmarkt unterscheiden,
Gemahlin, Krondorf Sauerbrunn mit ihrem Besuche.
besonders wenn letztere sich in einer gewissen Er¬
Vor der in den belgischen und ungarischen Farben
regung über irgend ein ihr angetanes oft nur ver¬
festlich geschmückten Quellen-Kolonnade wurde sie
meintliches Unrecht befindet. Da öffnen sich die
von dem Leiter der Brunnen-Unternehmung empfangen
Schleusen der Beredsamkeit und es treten Bezeich¬
und zu der ihren Namen tragenden Kronprinzessin
nungen, wie Titulaturen an den Unglücklichen heran,
Stephanie-Quelle geleitet. Die hohe Frau ließ sich
welcher sich das Mißfallen der erzürnten Obsthänd¬
sodann die Beamten der Unternehmung vorstellen und
lerin zugezogen hat, die er zum Glück nicht ver¬
äußerte auch den Wunsch, persönlich die Betriebs¬
steht, wenn er nur ein „Zugereister“ und nicht ein
räume zu besichtigen. Gelegentlich dieses Rundganges
richtiger „Eingeborener“ ist.
interessierte sie sich besonders für die in Vorberei¬
tung befindlichen großen Exporte für Amerika. Beim
Aber im Munde einer reizenden Wienerin klingt
10
Tee sprach Ihre kgl. Hoheit dem Krondorfer fleißig
der Wiener Dialekt gar lieblich. Formlich melodisch
zu und bemerkte, daß sie stets nür den vorzüglichen
schmiegt er sich ins Ohr, warm, liebkosend, ge¬
Krondorfer trinke. Ueber das Gesehene, sowie über
mütlich. Er ist der beste Bundesgenosse des „süßen
die Romantik des Sauerbrunntales sprach sich die
Mädels“ wenn es gefallen, besser noch, wenn es
hohe Besucherin in sehr schmeichelhaften Worten
geliebt sein will. Denn das „süße Mädel“ ist die
aus und trat nach ¾ stündigem Aufenthalte mit
Vertreterin der wahren und uneigennützigen Liebe.
ihrer Begleitung die Rückfahrt nach Karlsbad an.
Sie verkauft sich nicht, sie spekuliert nicht, weder
auf Geld noch auf die Ehe; sie will geliebt werden und
seease
liebt wieder. Sie ist keine Tochter aus gutem Hause,
doch entspringt sie auch keiner unmoralischen Familie.
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Vater und Mutter leben von ihrer. Hände Arbeit;
auch sie erwirbt sich ehrlich ihr Brod als Verkäufe¬
Ssensasenensassse
rin, Modistin, Stenographin usw. Daß sie an ihrem
freien Sonntag irgend wohin geht oder fährt, ist
Die Wienerin.
J
nahezu selbstverständlich. Daß sie nicht allein diese
10 Eine Moment-Aufnahme.
Ausflüge macht, ist natürlich. Ihr Begleiter hat nur
die nicht unerschwinglicher Kosten dieser gemein¬
Die Grazien haben an der Wiege der Wienerin
samen Partien zu tragen; sonst fordert sie nichts
gestanden und ihr jenen unwiderstehlichen Zauber
von ihm als Blumen und Liebe, sehr viel Liebe.
eingebunden, welchen der Franzose „Charme“ nennt.
Schnitzler hat in seiner „Christine“ aus dem Drama
Eher darf man der Wienerin Schönheitsfehler zuer¬
„Liebelei“ einen Ideal-Typus des „süßen Mädels“
kennen, als ihr jenen „Chic“ absprechen, den sie auch
geschaffen und in der „Mizzi“ den allgemeinen Typus
tatsächlich besitzt. Man weiß, daß Fürstin Pauline
dieser Spezialität. Die Ausnahme geht an dem zu¬
Metternich, deren Gemahl am Pariser Hofe die
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IX. Jahrgang Berlin W. 6: MHUN Wien VI. — Prag H. Nr. 23
Stellung eines Gesandten bekleidete, daselbst eine
Die fünf ersten Auflagen dieses Werkes sind
große Rolle zu spielen bestimmt war. Gemeinsam
vergriffen, was wohl als bester Beweis für seine
mit der Kaiserin Eugenie erfand sie die neuen Moden.
Brauchbarkeit dienen mag. Sein ganz besonderer
Sie wußte ganz gut, daß man sie im Publikum als
Vorzug vor allen ähnlichen Werken liegt darin, daß
„La belie laide“ bezeichnete; allein dieser Spitzname
es eine große Auswahl von 64 Schnittmustern der
erhöhte nur ihre Beliebtheit bei Hofe, wie ihre Popu¬
Herren- und Damen-Leibwäsche in natürlicher Größe,
larität in der Bevölkerung von Paris. —
also bereits ausgeschnitten bietet, und daß an der
Hand der beigegebenen gedruckten leichtfaßlichen
Die Wienerin, obgleich sie deutsch spricht, denkt
Anleitung jede Braut und Hausfrau ihre Wäsche selbst
und empfindet, ist doch keine Vollblutdeutsche, keine
zuschneiden und anfertigen kann. Die 6. Auflage ist
echte Germanin, wie die Berlinerin, oder überhaupt
einer gründlichen Durchsicht unterzogen worden,
eine Deutsche von rein deutscher Abkunft; denn in
manche Verbesserungen wurden hierbei gemacht und
ihr findet häufig eine Rassenmischung statt. Man
Neues hinzugefügt. Um den Anforderungen der Zeit
weiß, wie verschiedenartige Volksstämme zu Oester¬
nach „Verbesserung der Frauenkleidung“ gerecht zu
reich gehören. Da ist eine Rassenkreuzung geradezu
werden, sind in die neue Auflage Muster sowohl als
unvermeidlich; meist zum Vorteil eines neuen Ge¬
auch Anleitung zur „Reformwasche“ aufgenommen
schlechts. Der österreichische Offizier oder Beamte
worden, wodurch die Verfasserinnen, deren Namen
lernt berufsmäßig einen Teil der Monarchie kennen.
und Leistungen hinlänglich bekannt und geschätzt
Und dabei ganz verschiedene Repräsentantinnen des
sind, sich ein besonderes Verdienst erworben haben.
weiblichen Geschlechts. Der eine fühlt sich vom
Mögen sich den vielen Tausenden von „fleißigen
Zauber der Polin gefangen genommen, ein zweiter
Händen“, die die praktischen Ratschläge und Finger¬
von der Schönheit der Italienerin, ein dritter von der
zeige der Verfasserinnen sich zu nutze machten, in¬
Ursprünglichkeit einer Tirolerin. Diesen Ehen ent¬
folge der 6. Auflage noch weitere Tausende zuge¬
sprießen Töchter, welche in Wien erzogen „Wiene¬
sellen. Das Ganze befindet sich in eleganter Mappe
rinnen“ sind, ihre sogenannte Vaterstadt vielleicht
und kostet nur M 4.—.
nie verlassen haben und echt wienerischen Dialekt
sprechen. —
eiseeseaesse
Dieser Wiener Dialekt, wenn er nicht künstlich
nachgeahmt, sondern natürlich gesprochen wird und
AUS BADERN
nicht zu sehr ins Triviale fällt, ist eine angenehme
Sprechweise, geradezu „mollig“ wie die zartgerundeten
dseteksaesesaaseee
Körperformen der Wienerin. Selbstverständlich gibt
Hoher Besuch.
es eine ganze Staffelleiter der Wiener Sprechweise,
wie dies ja überall in den Großstädten der Fall ist.
Am 5. Aug. nachmittags Leehrte Gräfin Stephanie
Daß dies in Wien in noch erhöhterem Maße der
Lönyay, Prinzessin von Belgien, per Automobil von
Kavlsbad kommend, woselbst sie zum Kurgebrauche
Das „Wienerische“ einer gebildeten Frau wird
weilt, in Begleitung ihrer Hofdame Baronin Gagern
sich naturgemaß sehr scharf von der Ausdrucksweise
und (des amerikanischen Konsuls Watjen und dessen
einer Frau Nanni vom Naschmarkt unterscheiden,
Gemahlin, Krondorf Sauerbrunn mit ihrem Besuche.
besonders wenn letztere sich in einer gewissen Er¬
Vor der in den belgischen und ungarischen Farben
regung über irgend ein ihr angetanes oft nur ver¬
festlich geschmückten Quellen-Kolonnade wurde sie
meintliches Unrecht befindet. Da öffnen sich die
von dem Leiter der Brunnen-Unternehmung empfangen
Schleusen der Beredsamkeit und es treten Bezeich¬
und zu der ihren Namen tragenden Kronprinzessin
nungen, wie Titulaturen an den Unglücklichen heran,
Stephanie-Quelle geleitet. Die hohe Frau ließ sich
welcher sich das Mißfallen der erzürnten Obsthänd¬
sodann die Beamten der Unternehmung vorstellen und
lerin zugezogen hat, die er zum Glück nicht ver¬
äußerte auch den Wunsch, persönlich die Betriebs¬
steht, wenn er nur ein „Zugereister“ und nicht ein
räume zu besichtigen. Gelegentlich dieses Rundganges
richtiger „Eingeborener“ ist.
interessierte sie sich besonders für die in Vorberei¬
tung befindlichen großen Exporte für Amerika. Beim
Aber im Munde einer reizenden Wienerin klingt
10
Tee sprach Ihre kgl. Hoheit dem Krondorfer fleißig
der Wiener Dialekt gar lieblich. Formlich melodisch
zu und bemerkte, daß sie stets nür den vorzüglichen
schmiegt er sich ins Ohr, warm, liebkosend, ge¬
Krondorfer trinke. Ueber das Gesehene, sowie über
mütlich. Er ist der beste Bundesgenosse des „süßen
die Romantik des Sauerbrunntales sprach sich die
Mädels“ wenn es gefallen, besser noch, wenn es
hohe Besucherin in sehr schmeichelhaften Worten
geliebt sein will. Denn das „süße Mädel“ ist die
aus und trat nach ¾ stündigem Aufenthalte mit
Vertreterin der wahren und uneigennützigen Liebe.
ihrer Begleitung die Rückfahrt nach Karlsbad an.
Sie verkauft sich nicht, sie spekuliert nicht, weder
auf Geld noch auf die Ehe; sie will geliebt werden und
seease
liebt wieder. Sie ist keine Tochter aus gutem Hause,
doch entspringt sie auch keiner unmoralischen Familie.
& 88 LESEFRUCHTE 88
Vater und Mutter leben von ihrer. Hände Arbeit;
auch sie erwirbt sich ehrlich ihr Brod als Verkäufe¬
Ssensasenensassse
rin, Modistin, Stenographin usw. Daß sie an ihrem
freien Sonntag irgend wohin geht oder fährt, ist
Die Wienerin.
J
nahezu selbstverständlich. Daß sie nicht allein diese
10 Eine Moment-Aufnahme.
Ausflüge macht, ist natürlich. Ihr Begleiter hat nur
die nicht unerschwinglicher Kosten dieser gemein¬
Die Grazien haben an der Wiege der Wienerin
samen Partien zu tragen; sonst fordert sie nichts
gestanden und ihr jenen unwiderstehlichen Zauber
von ihm als Blumen und Liebe, sehr viel Liebe.
eingebunden, welchen der Franzose „Charme“ nennt.
Schnitzler hat in seiner „Christine“ aus dem Drama
Eher darf man der Wienerin Schönheitsfehler zuer¬
„Liebelei“ einen Ideal-Typus des „süßen Mädels“
kennen, als ihr jenen „Chic“ absprechen, den sie auch
geschaffen und in der „Mizzi“ den allgemeinen Typus
tatsächlich besitzt. Man weiß, daß Fürstin Pauline
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Metternich, deren Gemahl am Pariser Hofe die
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