II, Theaterstücke 4, (Anatol, 0), Anatol, Seite 30

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achtzehn. Auch ist bei aller Leidenschaft für Blanche die Zu¬
man auch im übrigen seinen Inhalt verurteilen mag —
neigung zu seiner feinen und liebevollen Frau nicht erloschen
immer als ein Ideal guten Stils erschien: die liaiso is
und ebenso sieht er mit Entsetzen ein, welches Unrecht er seinen
dangereuses.
Kindern anthut, indem er sich von ihrer Mutter abwendet.
Ohne noch alles ausgesprochen zu haben, was Rods Roman
Auch Blanche ist ein Geschöpf von zariem Gewissen, das gegen
in uns anregte, beenden wir hier unsere Anzeige mit aufrich¬
diese sündhafte Liebe mit aller Macht ankämpft, ihr durch Ein¬
tigem Glückwunsch zu diesem großen Erfolg des ausgezeichneten
tritt ins Kloster, später durch eine konventionelle Heirat mit
Genfer Schriftstellers.
irgend einem respektablen Herrn entfliehen will. Hier freilich
Anatol. Von Arthur Schnitzler. (Berlin, 1893,
erlahmt ihre Kraft; sie kann diese Heirat nicht schließen, ruft
Bibliographisches Bureau, Alexanderstraße 2.)
den Geliebten zu Hülfe, daß er sie davor rette und nun s.hlagen
Etwas so Pikantes und zugleich Geistreiches wie diesen
die Wogen der Leidenschaft über ihnen zusammen; sie beschließen,
„Anatol“ sollte man gar nicht mit Tinte rezensieren, man
einander ewig anzugehören. Teissier opfert alles auf, die Familie,
müßte die Feder vielmehr in Champagner tauchen. „Aber
den guten Namen, seine Hoffnungen auf politische Führerschaft,
dann würde sie ja keine Spuren auf dem Papier zurücklassen.“
um mit Blanche glücklich zu werden. Aber dieses Glück werden
Gewiß und das wäre vielleicht dus Beste an der Rezension.
er und sie nie erreichen; ihre Freuden sind zu schrecklich erkauft
„Und was für Druckerschwärze würden Sie denn wollen über
durch das zerstörte Lebensglück anderer.
die Lettern streichen lassen?“ Kaviar. „Vermutlich aus dem be¬
rühmten Fäßchen mit der Etikette: Kaviar fürs Volk?“ Genau aus
Ist nun, wie man diesen Andeutungen entnimmt, die
diesem. Denn nur für Feinschmecker ist „Anatol“ geschrieben. Es
Handlung schon als solche in Rods Roman durchaus keine ge¬
ist so etwas darin von dem infernalen Witz der französischen Sitten¬
wöhnliche, so ist vollends die Durchführung der Charaktere und
romane des vorigen Jahrhunderts, z. B. der vorhin schon genannten
die Schilderung dieser vorwiegend innerlichen Erlebnisse eine
glettres dangereuses o, „deren Verfasser auf dem Schaffot
meisterhafte. Die Dinge entwickeln sich vor unsern Augen mit
starb; die Guillotine der Revolution machte kurzen Prozeß mit
einer Folgerichtigkeit, die so unwiderlegbar scheint wie die Natur¬
solchen Aesthetikert des raffinierten Lebensgenusses.“ Ganz richtig;
gesetze. Wenn auch der Leser einmal einen Rettungsweg sicht,
aber das ist der große Unterschied, daß unsere zeitgenössischer
den Rod nicht öffnet, nämlich, daß Blanche eben nicht eine
Unsittenmaler sittlich wirken, ohne auch nur einen Anflug von
Konvenienzheirat mit einem altlichen Herrn versuchen, sondern
Pedanterie zu zeigen. In „Anatol“ ist eine Weiberkenntnis,
daß ihr Teissier selbst einen gleichaltrigen Mann zuführen muß,
als ob Don Juan das Buch geschrieben und dann wieder eine
der ihr Leidenschaft einflößen könnte, so darf man doch Rod
Verachtung der hohlen Nichtigkeit menschlicher Temperaments¬
nicht tabeln, daß er das durch die Liebe verblendete Paar an
tollheit, als ob der steinere Gast, direkt von den Sternenhöhen
ein solches Auskunftsmittel nicht denken läßt.
her eingetroffen, es durchgesehen hätte. „Mit alledem wissen
Der Hauptaccent des Romans liegt übrigens, wie der
win noch so viel wie gar nichts von dem Buche.“ Richtig! Es ent¬
Titel es sehr gut ausdrückt, auf dem Gegensatz des öffentlichen
hält mehr als ein halbes Dutzend in dialogischer Form aus¬
staatsmännischen Wirkens Teissiers zu dieser Verirrung. Daß
geführte Darstellungen von Liebesverhältnissen eines modernen
Rod hier einigermaßen das Schicksal eines berühmten zeitge¬
Lebemannes. Wir sehen Anatol im Verkehr mit der Putzmacherin
nössischen Staatsmannes wiedergespiegelt hat, Parnels, ist im
Cora, mit einer adeligen verheirateten Frau, die als Gabriele
Roman selbst, sowie durch eine Stelle der Vorrede angedeutet.
eingeführt wird, dann folgt die Episode einer Bianca vom
Wir werden hiebei ganz besonders darauf aufmerksam gemacht,
Cirkus, späier eine Geschichte mit Erinnerungsdiamanten einer
daß nur wahre Elitenaturen dem sogenannten Skandal ver¬
gewissen Emilie weiter ein Abschiedssonner mit der Ballet¬
fällen die Hdhr 2=2 Manlies bedlügl die Tiese des Stutzes.
tänzerin Annie, dann wieder ein Stelldichein mit einer Else,
Mittelmäßige Leute wissen den Kompromiß der Pflichten und
die leider ihren Mann betrügt, endlich Anatols Hochzeitmorgen,
der Leidenschaften zu machen, richten sie bequem und verstohlen
dem durch eine Ilona, welche nicht die Braut ist, das Regen¬
ein in gemeinem Genuß verbotener Dinge und kommen, auch
wetter verheißende böse Morgenrot nicht fehlt. „Aber das sind
wenn sie einmal ausnahmsweise entlarvt werden, nie stark zu
ja ganz ruchlose Süjets, die man in einer Zeitung gar nicht
Fall oder stehen doch bald wieder auf.
erwähnen sollte.“ Für Spießbürger und Institutsmädchen ist
Der neue Roman Rods bildet durch diesen Ideengang
auch wirklich „Anatol“ nicht geschrieben. Wir andern wollen
und die ganze Ausführung ein merkwürdiges Seitenstück zu
aber doch keine Heuchelei treiben. Wie hat der greise Branden¬
Ibsens neuem Drama „Baumeister Solmeß“, nur daß in letz¬
burger Dichter Fontane, dessen gemütvolle Romane wahrhaftig
terem der Grundgedanke des auch von Rod erfaßten Problems
beweisen, daß dem Manne das Herz auf dem rechten Fleck
noch schärfer, bestimmter ausgesprochen wird: Wer die sittliche
sitzt, sich neulich vernehmen lassen?: „Daß der sogenannte Sitt¬
Ordnung zu verletzen wagt, muß mindestens, wenn er nicht
lichkeitsstandpunkt ganz dämlich, ganz antiquiert und vor allem
selbst das Opfer werden soll, ein robustes Gewissen haben. Ein
ganz lügnerisch ist, das will ich wie Mortimer auf die Hostie
solches fehlt Michel Teissier und seiner Blanche durchaus, darum
beschwören.“ Vieraus soll nicht etwa ein übelwollender Dumm¬
können sie auch der Beute nicht froh werden, die sie aus diesen
kopf machen, Fontaue wolle die Sittlichkeit als dämlich, anti¬
Kämpfen davongetragen haben, ihrer endlichen Vereinigung.
quiert und lügnerisch abschaffen; es handelt sich nur um den
(Uebrigens will Rod, wie man auf dem Umschlag seines Buches
falschen Gesichtspunkt in Beurteilung von Werken der Poesie
liest, hierüber noch einen nächsten besondern Roman schreiben:
und Kunst. Wenn Schnitzler im Anatol“ an den Liebesver¬
La ssconde vie de Michel Teissier.)
hältnissen eines modernen Don Juans die Psychologie der
Der Roman Rods steckt auch voll prächtiger Reflexionen
Leidenschaft analysiert und zugleich den Dekadenztypus des Lebe¬
über alle zu diesem Thema passenden Probleme: & On ne peut
manns am Ende dieses Jahrhunderts unnachahmlich charakteri¬
pas étre grand homme en dilettante ....
& Teissier
siert, diese Mischung von Begierde und Unvermögen, von
repoussa l’idée de la mort d’instinct, en lutteur de race,
Wunsch und Blasiertheit, diesen schmerzlich empfundenen Mangel
qui da zusqu'au bout de la carrière. Oder Blanche sagt
an Naivetät, zugleich aber auch diesen Stolz auf geistige Klar¬
zu Teissier: a Michel, si tu n’as pas eu le courage de faire
heit und auf Beherrschung des eigenen Temperaments, so find
ton devoir, aie au moins celui d’y manquer bravement.)
solche Schilderungen einfach als Juwele in das Kästchen zu
Von solchen geistvollen Worten wimmelt die Konversation. Auch
legen, auf das man schreibt: „Entdeckungen des menschlichen
hat uns die Spruche als solche außerordentlich gut gefallen. Als
Herzens.“ Bei solchen Entdeckungen profitiert die Sittlichkeit
deutscher Kritiker wollen wir uns hierüber zwar kein maßgeben¬
immer, auch wenn wüster Moder aus der Urne solcher halb¬
des Urteil erlauben; nur mag uns die mehr oder weniger sub¬
erstorbener Herzn hervorgeholt wird. Das Mindeste in dieser
jektive Bemerkung gestattet sein, daß nicht nur sachlich sehr
Richtung ist, diß man zur Bestätigung des Schriftwortes ge¬
viele feine Sophismen der Leidenschaft, die in den Briefen
langt: „Alles it eitel.“
Teissiers und Blanches vorkommen, sondern überhaupt die eigen¬
Was die Frrm betrifft — wir verstehen darunter die Zu¬
tümlich schön gebauten Perioden uns an ein französisches Buch
bereitung des Stoffes im weitesten Sinn — so möchten wir
des vorigen Jahrhunderts erinnert haben, das uns — wie nur noch bemerken, daß diese deutschen Dialoge es mit den