II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 8

Beilage.
Cuneo


Anatol erkennt die anderen Gebote an, die von der Gesellschaft
Deutsches Volkstheater.
im Namen der Sitte, des Anstandes erhoben werden, wenigstens
(„Anatol." Von Artur Schnitzler.)
fügt er sich ihnen. Nur auf dem Gebiete des Liebesverkehres
zwischen Mann und Frau fällt es ihm gar nicht ein, sie zu befolgen:
Im Jahre 1893 hat Schnitzler seine Laufbahn als Dramatiker
denn er sieht zu gut, welche heuchlerische Verlogenheit in diesen Ge¬
in der Oeffentlichkeit begonnen: damals ist sein „Anatol", das erste
boten steckt, wieviele von denen, die sie öffentlich vertreten oder
seiner Bücher, als Buch erschienen. Auf dem Theater gegeben wurde
sich als ihre Anhänger dort bekennen, wo es sich um andere
der „Anatol“ — gestern zum erstenmal. Zum erstenmal in Wien,
Personen handelt, unbedenklich bei jeder Gelegenheit selbst gegen sie
wo der „Schleier der Beatrice" allerdings bisher noch gar nicht

verstoßen.
gegeben worden ist; zum erstenmal in Deutschland. Freilich, einzelne
Was Anatol den Stempel der Melancholie ausdrückt, auch wo
Teile hat man gelegentlich hier und dort gesehen. In Wien meines
er fündigt und scherzhaft ist, das ist nicht ein sittlicher Zwiespalt, in
Wissens „Die Frage an das Schicksal, die „Episode" und das
den er gerät. Nicht einmal der Gedanke an das Los, dem vielleicht
„Abschiedssoper. Auch die heutige Premiere bringt eigentlich nur
die Geliebte verfallen wird durch ihre Liebe zu ihm. Es ist der Ge¬
fünf Siebentel „Anatol“, das ist fünf von den sieben Szenen, die
danke an die Vergänglichkeit all' der süßen Freuden, welche die Liebe
durch gemeinsame Gestalten, die Idee und den Titel vereint sind.
dem Menschen bringt. An das „Gesetz der Umwertung", dem wir alle
Daß Anatol erst jetzt zur Aufführung gelangt, ist umso
unterliegen, dem Anatol selbst unterliegt und das er so oft schon an
bemerkenswerter, als eine Reihe von Erfolgen längst des Dichters
sich erlebt hat. Der Gedanke, daß all' das Schöne, dessen er sich jetzt
Namen durch ganz Deutschland getragen hat, wobei freilich nur der
freut oder das ihm bevorsteht, vergeht, daß es ihm einmal nicht mehr
der „Liebelei“ von des Dichters Heimat ausging, während andere
so schön erscheinen wird, daß es anders sein wird, als es jetzt ist, daß
draußen im Reiche einsetzten und von da erst sich nach Wien fort¬
er wenigstens anders sein wird, als er jetzt ist, anders sehen,
pflanzten; umso bemerkenswerter, als Anatol oder doch aus Anatol
anders empfinden wird, so daß er, wenn er darüber raisonnieren
genommen die Marke war, die ihm aufgebrannt wurde, sobald er
wollte, eigentlich zu dem Schlusse kommen müßte, daß es schon jetzt
seinen Namen bekannt gemacht hatte. Das Buch Anatol meinte man
nicht so schön ist, als es ihn anmutet. Das ist der letzte Grund von
auch wo man nicht von „Anatol“, sondern vom süßen Mädel
Anatols Melancholie. Es ist nicht eine Melancholie aus dem einzelnen
sprach. Und von Anatol war man in die Seele, das heißt
Fall und auch nicht eine Melancholie aus der Nichtigkeit und Schein¬
in die Empfindlichkeit der verletzten Eigenliebe getroffen, auch
barkeit der Liebe, sondern eine Melancholie aus der Nichtigkeit und
wo man nur seine moralische Indignation über das süße Mädel
Scheinbarkeit alles Irdischen. Es ist eine Melancholie nicht aus der
zum Ausdrucke brachte. Und manche, die ihre eigene Art und
besonderen Ausnahmsnatur Anatols, sondern aus der Natur des
Skrupellostgkeit im „Anatol“ bloßgestellt sahen, können dem Dichter
Menschen. Des Menschen wenigstens, der wie Anatol Lebenslust und
des „Anatol“ diese Indiskretion eines Mannes in einer Männersache
Lebensfreude mit aufmerksamen Schauen und vernünftigem
Denken
wohl bis heute nicht verzeihen, wenn sie auch gar nichts von der
verbindet.
otti
anderen, besseren Hälfte des „Anatol“ an sich haben sollten, die ihn
und weil Anatol bei aller Anlage zum Genuß immer nu¬
vielleicht dem Dichter erst wert machte, von ihm gestaltet zu werden.
diesem melancholischen Zug behaftet vor uns steht, wird in uns
Seit Anatol suchen sie die Gestalten in Schnitzlers Werken als
auch etwas von der Trauer um die Vergänglichkeit alles dessen, was
Anatols und süße Mädeln zu deuten und sie hiedurch im Sinne
das Leben uns bietet, auf die Gestalt des „süßen Mädels" überfließen,
ihrer Auffassung zu deklassieren, seit Anatol möchten sie ihm nicht
das sich ja auch wie Anatol ohne irgendwelche sittliche Bedenken dem
gestatten, andere Figuren als Anatols und süße Mädeln zu schaffen.
Drange des Herzens hingibt, des süßen Mädels, dem es so natürlich
Seit Anatol lassen sie sich nur von Fall zu Fall ihren Beifall
erscheint, wo es liebt oder verliebt ist, sich zu geben und das, wenn
entringen, seit Anatol gehen sie in den Premieren Schnitzlerischer
es sich gegeben, nach einer traurigen Erfahrung, die das Leben
Stücke mit sauren Gesichtern umher und begleiten den lauten
bietet, bald so ganz anders erscheint als ehevor, und wenn zu dem
Beifall der anderen mit allerlei Grimassen und hämischen Be¬
Bande der Liebe nicht das der Familie tritt, meistens verlassen
merkungen. Wenn andere von der elementaren Kraft erschüttert
wird. In der „Liebelei" hat Schnitzler das süße Mäd und auch
waren, ut der Schnitzler soziale Probleme vorführte, wie im
Anatol künstlerisch ausgestaltet. In dem so verketzerten „Reigen“ hat
„Leutnant Gustl“, im „Freiwild“, dann vermochten sie nur das
er in humoristischer, grotesker Form den Gedanken von der Ver¬
süße Mädel und Anatol zu sehen, und wenn sie einmal bei einer
gänglichkeit der Liebe durchgeführt. Im Anatol haftet Schnitzler
Premiere nicht mit Fingern auf Anatol und das süße Mädel zeigen
viel weniger an der rein sinnlichen Seite des Phänomens, und hier
können, dann halten sie sich schadlos dafür, wie sie können.
tritt auch das Tragische an diesem Gedanken viel mehr heraus,
Anatol nennt sich selbst einen „leichtsinnigen Melancholiker in
wenn er es immerhin auch hier so stark mit Lichtern des Humors
den „Weihnachtseinkäufen", der zweiten der Anatolszenen, wo er
erleuchtet hat, daß viele darüber heute noch das Tragische, das
auch dem Typus des süßen Mädels, indem er ihn der „mondainen

diese umspielen, gar nicht sehen.
Dame" beschreibend vorführt, seinen charakterisierenden Namen gibt.
Gewiß, eine Fülle von Humor steckt im „Anatol. Aber an
Anatol ist eine zwiespaltige Natur — wie es ja so viele Menschen
blutige Ironie und bittere Selbstversiflage hat Schnitzler reichlich¬
sind. Diese Zwiespaltigkeit so scharf gesehen und diese Zwiespaltigkeit
über die Figur seines Helden gegossen. Und etliche Male hat er den
in ihren beiden Bestandteilen und in ihrem Zusammenhang so wahr
Gedanken von der Tragik des Lebens, das so unheimlich ist un¬
und überzeugend und mit solch humoristischer, über die Misere des
verhüllt vorgeführt. Nicht an die Stelle in der „Agonie denke
zwiespaltigen Lebens erhebender Kraft gestaltet zu haben, wie es eben
ich, wo Max als der richtige Raisonneur halb scherzhaft
nur einer kann, der die Figur nicht nur gesehen, sondern auch
eine tragische Schuld des Mannes in der Liebe konstruieren
empfunden und erlebt hat, das gab dem Anatol literarischen Cha¬
will, wenn er sagt: „Hatten wir nicht die Verpflichtung, die
rakter, so unliterarisch damals noch so vielen das Milieu galt, in
Ewigkeit, die wir ihnen versprochen, in die paar Jahre oder
dem Anatol und das süße Mädel als sich bewegend gedacht sind,
Stunden hineinzulegen, in denen wir sie liebten? Und wir konnten
und ließ gleich Schnitzlers erstes Buch als das Werk eines Dichters
es nie nie! Mit diesem Schuldbewußtsein scheiden wir von jeder
erkennen.
und unsere Melancholie bedeutet nichts als ein stilles Ein¬
Anatol ist ein Vertreter natürlicher, gesunder Sinnlichkeit und
geständnis. Aber die melancholische Grundstimmung in Anatol
Genußsucht ohne jede Beimischung von moralischer Skrupulosität
schlägt durch, wenn er in der Szene „Episode beim Anblick einer
oder von gesellschaftlicher Heuchelei oder von krankhafter sinnlicher
verwelkten Blume ausruft: „Staub daß von so viel Süßigkeit
Ueberreizung, wie sie so oft mit dieser Hand in Hand geht. Weil
nichts anderes zurückbleibt, ist eigentlich traurig; oder ebendort
ihm die Sinnlichkeit etwas natürliches ist, er selbst ihre Not¬
berichtet: „Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf
wendigkeit einsteht, liegt es ihm ganz ferne und fällt ihm auch im
meiner Hand fühlte, erlebte ich das ganze schon in der Erinnerung.
Wege des Spintisierens nicht ein, gefühlvoll darüber zu klagen, daß
Anatol stellt eine ideale Forderung an das Weib. Er denkt
das süße Mädel nicht zu gleicher Zeit sein süßes Mädel und sittsam
nicht daran, sie selbst zu erfüllen, und er weiß, daß etwas in der
und tugendhaft sein kann, oder sich Vorwürfe zu machen, wenn er,
Natur des Weibes ihr nicht entspricht. Das ist tragisch. Aber im
dem Reiz ihres Wesens unterliegend, sich gegen diejenigen von der
einzelnen Falle bildet er sich immer wieder ein, daß das Weib ihr
Gesellschaft erhobenen Forderungen vergeht, die ihr aus dem Be¬
nachkomme — soweit es sich um ihn handelt. Daß er der Erste,
griffe der Sittsamkeit entspringen, tatsächlich aber den der Unsitt¬
der Einige, der Letzte sei, daß sie auf ihn gewartet habe, ihr
lichkeit geschaffen haben.