II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 9

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Zykle
4.9. Anatol
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Wien, Sonntag
ganzes Leben um ihn trauern werde. Und das macht ihn uns so
komisch — besonders wenn wir es gar nicht merken, daß wir auch
so sind wie er.
Den vielseitigen, in seiner Eigenliebe so naiven Anatol und
den sich so klug gehabenden Max spielten mit bester Wirkung Herr
Kramer und Herr Lackner. Für die verschiedenen Erscheinungs¬
formen der edlen Weiblichkeit an Anatols Liebeshimmel konnte das
Volkstheater gleich eine ganze Reihe von trefflichen Darstellerinnen
vorführen. Fräulein Hannemann gab Cora in der „Frage an
das Schicksal, Cora, der er der einzige war und geblieben ist, dem
sie ihre Liebe geschenkt hat, und die er, von den Qualen der Eifer¬
sucht gemartert, nachdem er sie in hypnotischen Schlaf versetzt hat,
doch nicht nach ihrer Treue zu fragen wagt. Fräulein Reinau
gab in den „Weihnachtseinkäufen" sehr chie und distinguiert die
mondaine Dame, die sich bewußt ist, ebenso lieben zu können
wie das füße Mädel, aber nur den Mut dazu nicht hat.
Fräulein Müller spielte in der „Episode" die Bianca, derer
einen so unauslöschlichen Eindruck gemacht hatte — und die ihn gar
nicht wiedererkennt, da sie ihn unvermutet trifft. Frau Glöckner
erweckte große Heiterkeit im „Abschiedssouper" als Annie, mit der er
einen edlen Wettkampf aufführt an Zartgefühl und Brutalität, da
es ans Scheiden geht; sie haben es sich ja versprochen, daß sie sich
nicht betrügen werden, sondern jedes es ehrlich sagen will, wenn eine
andere Liebe in ihm erwacht; nun will er ihr diese Eröffnung machen,
aber sie kommt ihm zuvor, doch er kann sie übertrumpfen, er habe
sie ja doch schon seit Wochen betrogen, nur hat sie freilich den letzten
Trumpf, denn sie sei nur nicht so rücksichtslos gewesen, ihm das zu
sagen. Und Fräulein Glafrés gab die Ilona in „Anatols
Hochzeitsmorgen", die sich, nachdem sie in Unkenntnis der bevorstehenden
Trauung die letzte Nacht vor Anatols Hochzeit mit ihm verbracht,
damit trösten läßt, daß nicht sie die Betrogene ist, weil man zu ihr
zurückkehren, die Gattin aber verlassen kann.

Das Publikum unterhielt sich glänzend und zeichnete die Dar¬
steller und den Dichter durch viele Hervorrufe aus.

Max Burckhard.
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de
le
Die
Kleider machen Leute.

Komische Oper in einem Vorspiel und drei Akten nach Gottfried Keller¬
Novelle von Leo Feld. Musik von Alexander Zemlinsky. Erste
Aufführung in der Volksoper am 2. Dezember.)

Seit zehn Jahren ist Alexander Zemlinsky eine Hoffnung von
Wien, aber eine unerfüllte. Als sein Erstling „Es war einmal in
der Hofoper Anerkennung fand, hielt man ihn für „gemacht", aber
seltsam: keine andere Bühne wollte diesen Erfolg ratifizieren. Sein
zweites Werk, den „Traumgörg“ hat er, als die bequemen Sänger
dawider streikten, zurückgezogen und seither in seinem Notenpulte
schlummern lassen. Mit umso regerem Interesse sah man nun seiner
neuen Oper entgegen, die ursprünglich in Stuttgart heraus sollte,
bis der Komponist sich dafür entschied, sie unter seinen Augen, an
der Stätte seiner gegenwärtigen Wirksamkeit vor die Rampe zu
bringen. Hier hat diese seine Arbeit denn auch bei der Premiere
einen lauten, äußern Triumph davongetragen.
Das Libretto stammt aus der Feder Leo Felds, die dem
Künstler auch schon den „Traumgörg“ geliefert hatte. Man kennt
Gottfried Kellers köstliche Novelle von dem armen polnischen Schneider
Strapinski, den dann ein lustiger Herrschaftskutscher auf der Land¬
straße aufliest, ihn eine Strecke Weges fährt und im nächsten Gast
haus den Wirtsleuten aufbindet, sein Fahrgast sei ein polnischen
Graf. Ohne es zu wollen, wird das Schneiderlein in die neue Rolle
gedrängt, die Honoratioren der Stadt bewerben sich um seine Gunst,
Nettchen, die Tochter des Amtsrates, verlobt sich ihm. Aber die
Eifersucht eines Nebenbuhlers erspürt sein Geheimnis und bringt es
bei einer Lustbarkeit gar grausam an den Tag. Unter Spott und
Hohn flieht der Armee in die kalte Winterlandschaft hinaus. Am
Kreuzweg nach Seldwyla findet ihn die Braut, verzweifelt in den
Schnee gesunken. Sie hebt ihn mitleidig auf und in einer langen
Unterredung ringt sich in ihr der Entschluß los: wenn schon
nicht Gräfin, so doch rechtschaffene Meisterin zu werden. Diesen
ten Stoff hat Feld gewandt auf die Bühne gestellt, alle

der
lichen, Sorglosen des Biedermeiermiliens geht er aus dem Wege
greift das Sentimentale, Larmoyante, Unbefriedigte der Zeitepoch
begierig auf. Selbst wenn der hungerige Schneider sich an de
Pastete delektiert und in den entzücktesten Worten seine Gaumen
weide ausdrückt, verschmäht es die Musik, seine Wonne in Tönen zu
versinnlichen, sondern malt nur die Hast und Geschäftigkeit des
Essens. Wogegen er ganz in seinem Element ist, wenn es gilt, etw¬
die Stimmung der schönen Mondnacht in dem altertümlichen Städtcher
romantisch mit weichem Hörnerklange zu schildern.
Plato, glaube ich, hat einmal gesagt, es sei Sache eines und
desselben Mannes, die wahre Tragödie und die wahre Komödie zu
schreiben. Darnach würden wir von Zemlinsky auch schwerlich ein
musikalisches Trauerspiel zu erwarten haben. In der Tat ist seine
eigentliche Domäne, wie mir scheinen will, das Reich der gemischter
Empfindungen, und in dieser Richtung müßte auch der Stoff liegen
der ihm einmal den großen Treffer bringt. Rein musikalisch betrachtet,
darf Zemlinsky als ein Meister gelten, mit dem, wenn er anderswo
als in Wien lebte, gewiß viel mehr Wesens gemacht werden würde
Er gehört zu denen, denen es bitter ernst um ihre Kunst ist, er
schielt nicht nach dem Publikum, er ist wahr im Ausdruck, er ist ein
Künstler von Geist und Intelligenz, er kann ungewöhnlich viel, en
ist ein sehr interessanter Harmoniker und seine Musik besitzt unter
anderem die wertvolle Eigenschaft, daß sie bei wiederholtem Hören
bedeutend gewinnt. Umsoweniger sollte er nach komischen Stoffen
greifen, wo eine unmittelbare Wirkung auf den ersten Blick und
Horch benötigt wird. Eine Musik, die erst studiert sein will, ist hier
keineswegs am Platze, und über die Kürze, die bekanntlich des Witzes
Würze bildet, verfügt er nun einmal nicht. Es ist fast alles zu lang,
manches bis zur Unerträglichkeit und vieles gewiß bis zur Ab¬
schwächung des guten Eindruckes. Die Vorstellung währte von
Sieben bis ein viertel auf Elf, trotz ausgiebiger Striche, die
sogar viele wertvolle Seiten der Partitur nicht verschonten
Zur populären Wirkung, wie sie der Text ohne Zweifel erheischt, ge¬
hört aber auch ein Einschlag volkstümlicher Melodik, der Zemlinskys
aristokratische Individualität aber im weiten Bogen ausweicht.
Nettchen singt im zweiten Akt ein schönes Lied zum Klavier: „Lehn
deine Wang an meine Wang, aber behüte kein ins Ohr gehendes
Biedermeierstück, sondern ein Konzertlied im schwerblütigen, anachro¬
nistischen Schumannstil. Der Abschied der Liebenden ist sehr ausdrucks¬
voll, sehr innig deklamiert, aber das gemeinsame Gefühl könnte sich
nur in einer behaltbaren Melodie befriedigen. Sogar einen Stich
ins Triviale dürfte sie haben, wenn sie nur der Wärme und Sim¬
plizität nicht entbehrte. Es gibt Situationen im Menschenleben, wo
einem nichts übrig bleibt, als sich der Wendungen zu bedienen, die
dem Empfinden den natürlichsten, einfachsten Ausdruck geben, die
infolge dessen schon unzählige Male gebraucht wurden, wo der Ver¬
such, einen originellen, aparten Ausdruck dafür zu finden, schon als
affektierte Unnatur anmutet. Zemlinskys Musik klingt oft gerade
.