II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 12

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Zyklu-
4.9. Anatol-
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Deutsches Volkstheater. Zum ersten Male:
„Anatol. Fünf Einakter von Artur Schnitzler
Die Büsten von Grillparzer, Schiller und Lessing und
auf der Stirnseite dieses Theaters aufgestellt, das den
stolzen Ehrennamen „Deutsches Volkstheater trägt. Aber
der Geist, der in diesem Spielhause herrscht und ent¬
scheidet, schwenkt ab und zu ganz auffallend von den
Wegen dieser drei ab. Ich kann mit allerbestem Willen
nicht einsehen, was so flatterleichte, frivole Unterhaltung,
wie die heutigen Einakter in einem Theaterfür das „deutsche
Volk zu suchen hat. Trotz der gestickten Komposition etlicher
Situationen, trotz allerhand hübscher Ideen, trotz der prickeln¬
den Abwechslung, mit der ein stets wechselnder Reisen von
Choristinnen, Modistinnen, Zirkusreiterinnen, Salondamen
und Dutzenden ähnlicher Gestalten aus der großen und
kleinen Welt um
berkünstler Anatol herumtanzt;

trotz des bald ernsten hal=
brutalen, bald melancholischen,
bald burlesken Grundiones in
in einzelnen Szenen
ron alledem gähnt eine eintönige Leere, eine tiefinnere
Hohlbe aus jedem einzelnen
ter wie aus
dem Gesamteindruck des Abends. Es
mer wieder nur
das Weib, das Weib, das Weib
ob es kein
anderes Lebensmotiv gäbe! Im ersten
Frage an das Schicksal, versetzt
nale
Liebchen Cora in hypnotischen Slaf, um so zu erfragen,
sie ihm wach gewiß nie verriete: ob sie ihn nur allein liebt. Aber
er schreckt dann doch vor der Gewißheit zurück und weckt
sie, ohne zu fragen. Freilich, sie verrät sich dann selbst
durch die ängstliche Frage: Habe
das Unrechtes
gesagt? — Der zweite Akt, „Weihnachts einkäufe,
spielt am Bescherungsabend auf der Straße im Schnee,
ein Gespräch zwischen Anatol und einer Dame der großen
Gesellschaft; Thema: das Vorstadtmädel, das unbekümmert
liebt, wenn sie mag, und die vornehme Dame, die zu schwach
ist, ihrer Liebe zu leben. — Das „Abschieds¬
souper führt uns in eine Chambre particulière, wo
sich Anatol und die Choristin Annie frank und frei die
„Liebe kündigen, weil sie einander satt sind und sich ander¬
weitig verliebt haben. — Die „Episode", übrigens
wohl das beste und relativ gehaltsvollste der fünf
Stückchen, führt Anatol bei einem Freunde zufällig
mit Bianca, der Zirkuskünstlerin, zusammen, die
ihm vor Jahren einmal, so glaubt er, ihre
ganze Seele schenkte. Und jetzt — sie erkannte ihn nicht
einmal wieder. Der letzte Einakter, „Anatols Hoch¬
zeits morgen", spielt wieder in Anatols Wohnung:
Heute ist seine Hochzeit aber die schöne Ilona, die er vom
Maskenball der letzten Naht mitgebracht, will ihn nicht
fortlassen. Er muß sich fast gewaltsam losreißen. Aber
Freund Max tröstet die unglückliche Ilona: Anatol wird
ja nach der Trauung wieder zu ihr kommen. Das ganze
ist im günstigsten Falle als leicht, seichte, frivole Unter¬
haltung zu bewerten. Amusement, sonst nichts. Die sorg¬
fältige, verschwenderische Inszenierung ist viel mehr wert
als die Stücke selbst. Herr Kramer spielte mit seiner
bekannten Lebemannsroutine den Anatol; den Reigen der
Cora, Gabriele, Annie, Bianca und Ilona gaben die
Damen Hannemann, Reinan, Glöckner,
Müller und Galafres, jede ihre Rolle typisch
gestaltend.
Dr. W
Konkordiaplatz 4
1. 1910
Wiener Journal
(Deutsches Volkstheater.) Anatol, das ist die
Jugend. Das ist das süße Mädel. Das sind die kleinen, wichtigen
Nichtigkeiten. Die erste Liebelet / die erste Wehmut, die erste
schmerzliche Enttäuschung, die Heiterkeit des Genießens, die süße
Torheit und der skeptische Leichtsinn. Anatol: das ist der Blüten¬
staub, der über jungwienerischer Dichtung schimmerte, das Muster
einer literarischen Gattung, die mit Worten und Empfindungen
tändelte, Worte und Empfindungen mit einander ver¬
wechselte, sich in Spöttellust verlor. Artur Schnitzler hat
diesen Reigen geführt und hält jetzt längst schon
bei den Dämmerseelen. Aber man ist immer noch mit Vergnügen
und Interesse dabei, wenn die Marksteine auf Anatols Liebes¬
wegen aufgerichtet werden. Wenn er die „Frage an das Schicksal
stellen kann, indem er die süße Cora in hypnotischen Schlaf ver¬
setzt, um zu erfahren, ob sie ihm auch treu ist. Er fragt dennoch
nicht, weil ihm die Illusion, der Zweifel lieber ist als die
Wahrheit. Oder wenn Anatol „Weihnachtseinkäufe" macht, der
schönen mondainen Bekannten von seinem Mädel in der Vorstadt
vorschwärmt und in ihr die Sehnsucht nach dem Glück
Anatol beim
im Winkel wachruft. Oder wenn
„Abschiedssouper hält, um sich mit seiner kleinen Ballettratte
für immer auseinanderzusetzen, wobei sie ihm zuvorkommt und ihm
zuerst den Abschied gibt. Oder wenn Anatol wieder einmal eine
„Episode" hinter sich hat, in der Erinnerung einer flüchtigen
Liebesstunde schwelgt, die sicher auch für jene Holde unvergeßlich
sein muß, während dieses brave Geschöpf an der schrecklichsten
Gedächtnisschwäche leidet. Oder wenn die Süßigkeiten des kleinen
Verhältnisses ein vorläufiges Ende nehmen, „Anatols Hochzeits¬
morgen" heranbricht und im Nebenzimmer die ahnungslose
Freundin Ilona die letzte Junggesellenfreiheit markiert. Das
ist der Anatol, der süße Bub, mit dem wienerisch-romantischen
Einschlag, der so wehmütig lustig durchs Leben schreitet, so im
Dreivierteltakt die Freuden kostet, und bei seinem kühlen Freunde
Max immer so wenig Verständnis für die Illusionen einer kost¬
lichen Jugend findet. Es ist nicht Schnitzlers Schuld, daß die
Stimmungen, die er heraufbeschwört, der Witz und die Lyrik nicht
mehr so unmittelbaren Reiz haben; man hat ihn zu viel kopiert, at
die kleinen Goldmünzen, die er ausstreute, inzwischen zur gangbaren
Scheidemünze gemacht. Aber die kleinen Anatol-Einakter wirken noch
immer und sind auch gestern dankbar begrüßt worden. Herr
Kramer als der sentimentale Lebejüngling mischte der Figur zwar
ein bißchen viel Reiffe bei, aber in den fröhlichen Momenten hatte
seine sicher treffende schauspielerische Fertigkeit das Wesen der
Dinge rasch beleuchtet und erschöpft. Von dem Max des Herrn
Lackner ging jene beabsichtigte kalte Heiterkeit aus, die dem not¬
wendigen Wurstigkeitsgefühl entsprach. Im „Abschiedssouper
stellte Frau Glöckner die Annie vergnügt, wenn auch ein wenig
scharf dar, in den „Weihnachtseinkäufen" war Fräulein Reinau
eigentlich mehr süßes Mädel als mondaine Dame, und in
„Anatols Hochzeitsmorgen" vertrat Frau Galafres geschickt die
lärmende weibliche Lustigkeit. Der große Beifall, der den einzelnen
Stückchen folgte, rief auch Artur Schnitzler wiederholt vor den
he¬
Vorhang.