II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 11

haften Dialog der Anatolzenen schon vollendet vor. Sind
diese Stücke auch nicht Theaterspiel, sondern nur An¬
spielungen aufs Theater, und sind sie nur als flüchtige
Symbole des Dramas zu erkennen, so verlockt doch eben
der kunstreiche, zartgegliederte Dialog noch heute, zwanzig
Jahre nach der Entstehung des „Anatol“, die Darsteller,
ihre Gewandtheit an einer Charakterisierung zu versuchen,
die nahezu allein durch das bewegliche Wort hervorzurufen
ist. Die ästhetische Kraft dieser Szenen, die trotz ihrer
leichten Webearbeit oder gerade deshalb uns selbst über
die ethische Bodenlosigkeit im Fluge hinwegheben, wirkt
noch fort; der Naturalismus, der Symbolismus, die Neu¬
romantik und alle andern Ausstrahlungen bis zum dra¬
matischen Nihilismus unsrer Tage konnten die Reize dieser
fühligen, anmutig beschwingten Kunst nicht zerstören. Das
Geheimnis dieser angenehmen Erscheinung liegt vielleicht in
den romanischen Quellen des Anatal und in ihrer glück¬
lichen Vereinigung mit wienerischen Zügen, denen die an¬
geborne Grazie den Vorzug gibt, sich auch durch schroffe
Literaturen fortzuschlängeln. Im Takte der leichten Pulse
entwirren, sie das schwerste und lästigste Treiben und
schmiegen uns an geistige Freuden.
Zum erstenmal befaßt sich das Deutsche Volks¬
theater mit Anatol, dem Herr Jarno vor geraumer Zeit
schon viele Erfolge bereitet hatte. Aber die Erstaufführung
von fünf Teilen aus dem Anatolkreise ist im Volkstheater
jetzt umso interessanter, als heute nicht bloß anders
gedichtet, sondern auch anders gelebt wird. Wirklich haben
die Szenen nun mehr als Kunstwerke denn als soziale
Dokumente das Publikum gefesselt. Das tiefe psychologische
Moment, das nicht aus der mitarbeitenden Zeit begriffen
werden muß, das allgemein Menschliche trat in jeder
Szene stärker hervor als vor Jahren, da die originalen
Anatole noch munter mit uns lebten und in Schnitzlers
Dichtung wie in einen Spiegel schauten. Für die geist¬
bewegte künstlerische Führung der einzelnen Stücke war
die Teilnahme im Deutschen Volkstheater so lebhaft und
frisch, als ob uns die geschickten Wendungen zum ersten¬
mal verblüfften. Das ist eine vollgültige Bekräftigung
dauernder Werte.
Gleichwohl ist das Wesen Kramers — es war ja
im Grunde ein Kramerzyklus — für die Halbgefühle und
Wanderliebe des jungen Anatol schon ein wenig zu se¬
haft; an seiner Rede hängen Gewichte, und von dem
„leichtsinnigen Melancholiker" als den sich Anatol selbst
bezeichnet, schien der Leichtsinn zu entschweden, so daß un¬
der Bodensatz der Melancholie übrig blieb. Erst die Ver¬
legenheit Anatols an seinem Hochzeitsmorgen, wo die
Dichtung auch den gewohnten Späten Kramers entgegen¬
kommt, entsprach den Voraussetzungen, die in der gegen¬
wärtigen Verfassung des liebenswürdigen Darstellers
liegen. Dagegen hat Anatols kälteres Widerspiel, die ver¬
nünftig überlegene Stepsis des Freundes Max in Herrn
Lackner die denkbar günstigste Vertretung gefunden. Er
war natürlich und von ergötzlicher Trockenheit. Seine leicht
wienerische Tonfärbung berührte sehr angenehm, jede
Pointe, jede Zwischenbemerkung machte den erwünschten
Effekt. Fräulein Hannemann war in der gebotenen
Passivität als hypnotisierte Cora so vortrefflich wie Frau
Galafres in der bis zur Tätlichkeit aktiven Rolle der
Ilona, die ihren Anatol erst eine Stunde vor seiner Hoch¬
zeit preisgibt — in der sicheren Erwartung, ihn zeitweilig
wiederzugewinnen. In der seelisch vertieften Duoszene der
„Weihnachtseinkäufe war Fräulein Reinau die Welt¬
dame, die das süße Mädel um den Mut der freien Liebe
beneidet — reizvoll, aber vielleicht selbst ein wenig zu füß
und zu viel Mädel. Im „Abschiedssouper", gab Frau
Glöckner eine charakteristische Balletrattenstudie. Es sei
mit hohem Lobe anerkannt, daß sie die literarische Linie
nirgends überschritt, obwohl das Publikum auf jeden
„Schlager stürmisch reagierte. Paula Müller gab in
der „Episode die Zirkusdame Blanca — in wenigen
bedeutungsvollen Worten, in nur leicht bezeichnenden
Bewegungen ein Bild vollendeter Künstlerschaft. Die
Schlußpunkte allein waren ein Virtuosenstück. Der Reichtum
des Deutschen Volkstheaters an weiblichen Variationen erregte
ungemeines Wohlgefallen. Mit allen Darstellern wurde
der Dichter, der sein Erstlingswerk neu aufhehen sah, nach
Rob. H.
jedem Teile vielmal herzlich gerufen.
box 8/4
klu-
4.9. Anatol
Wien, 1.
Konkordiaplatz 4
Illustrirte Kronen-Zeitung, Wien
DE
Theater und Kunst.
(Deutsches Volkstheater.)
Ein Schnitzer¬
Abend. Die fünf reizenden „Anatol" - Einakter, die Einzeln
schon bei verschiedenen Anlässen gespielt wurden, füllten dies¬
mal in kompletter Vollständigkeit einen anregenden, unter¬
haltlichen Theaterabend. Zuerst wurde von Anatol an die Ge¬
liebte „Die Frage an das Schicksal gestellt, hierauf
folgten die hübschen Auseinandersetzungen „Weihnachtsein¬
käufe zwischen Anatol und Gabriele. Als dritter Akt wurde
wieder einmal das „Abschiedssouper“ gefeiert. Dann kam die
„Episode mit Bianca und den Schluß machte die Liebesbilanz
Anatols an seinem „Hochzeitsmorgen". Herr Kramer
spielte den Anatol im Schnitzlerischen Sinne, als den liebens¬
würdigen, unbedenklichen und doch geistreichen Charmeur.
Anatols Freund (Max) gab Herr Lackner in eleganter Hal¬
tung. Die unterschiedlichen Liebchen Anatols verkörperten Fräu¬
lein Hannemann (Cora), Fräulein Reinau (Gabriele),
Frau Glöckner (Annie), Fraulein Müller (Bianca) und
Frau Galafrés (Ilona) mit Charme und guter Charak¬
teristik. Es gab reichlichen Beifall für den Dichter und die
Künstler.