II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 48

für
Die Anatol-Szenen wurden überhaupt recht frisch
gespielt und waren von Emil Lessing mit vielem Ge¬
schmack inszeniert. Freilich waren die Vertreter der
beiden Hauptrollen für ihre Aufgaben geistig zu reif.
Herr Monnard war mit allem Geschick bestrebt, den
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weichen, schleppenden Ton des dekadenten Wiener Gigerl
zu treffen wie er im Aeußern das Wesen charakterisierte.
Herr Reicher, der vor zwanzig Jahren an der ersten
Berliner Börsen Courier,
Aufführung eines dieser Stückchen mitwirkte und also
aus Pietät wieder mittat, gab den liebenswürdigsten
Morgenausgabe
Räsonneur, aber man sträubte sich gegen die Annahme,
daß diese beiden wuchtigeren Darsteller sich andauernd
mit derlei Primaner= oder Studenten=Liebeleien ernst¬
haft befassen. Frl. Somary war flott und frisch im
Vor den Kulissen.
ersten Stückchen, Frl. Lossen wollte aus der kleinen
Das Lessing=Theater, das uns bald Arthur Rolle im zweiten mehr herausschlagen, als sie bietet
der Zettel verzeichnet übrigens hier wieder den
Schnitzlers neuestes Werk darbieten will, brachte uns Max, der aber gar nicht erscheint. Im „Abschieds¬
gestern sei ältestes. An die zwanzig Jahre sind die
souper bewährte Frl. Sussin sehr viel Geschick
Anatol-Szenen alt, seit achtzehn Jahre liegen sie und überlegene Sicherheit — die Nawetät nur
im Druck vor, der Autor ist längst und hoch über die
Entwicklungsphase hinausgewachen, der jene Skizzen fehlte, die diesem Stücken das Verletzende
nimmt. Die kleine Szene der Zirkus=Bianca im
entstammen, und gestern erst wurden sie auf eine
Berliner Bühne, zu einem Strauß gebunden, einer vierten Stückchen lag Frl. Herterich recht gut und
verständnisvoll empfänglichen Zuschauerschar vor die Ilona gab denn Frau Irene Triesch Gelegen¬
heit, ihre erstaunliche Vielseitigkeit zu bewähren.
gesetzt. Nicht alle sieben freilich, aber doch fünf, die
den Zeitumfang eines Theaterabends gerade füllen. Diese temperamentsprühende kleine Frau, anschmieg¬
sam und schmeichelnd wie ein Kätzchen, ungebärdig
Zwei dieser kleinen, pikanten Dialoge und
Szenen sind hier schon früher gespielt worden. „Die wie eine Wildkatze, ist das wirklich unsere reichbeseelte
Ibsen=Darstellerin, wirklich die geistgetragene Jeanne
Frage an das Schicksal im Residenz=Theater
d'Arc, wirklich die Priesterin im Tempel unserer klassi¬
mit Jarno als Anatol, das „Abschiedssouper" wurde
schen Dichtung
hier sogar viel und oft und auf sehr vielen Bühner
Der ganze Anatol-Abend ist als eine hübsche
gegeben, mit Hansi Niese, mit Eisela Schneider=Nissen
Studie zur Kenntnis von Schnitzlers Entwick¬
mit der Sorma sogar, und mit der ersten Dar¬
stellerin der Rolle, mit Adele Sandrock. In ihrem ung, nicht als Charakterisierung Schnitzlers an¬
zusehen. Derlei auf einen ironisch-pessimistischen
Zusammenhange erst, in ihrer Geschlossenheit, geben Ton gestimmte Jugendarbeiten haben viele unserer
die fünf von den sieben Anatol-Szenen ein Bild des
Dramatiker einmal veröffentlicht. Sudermanns
jugendlichen Verfassers, des Arthur Schnitzler von
Geschichten „Im Zwielicht" sind den Schnitzlerschen
1890 oder 1891.
Nur daß uns hier
Skizzen nahe verwandt.
Daß die fünf kleinen Schöpfungen weder einzel
Dramen irgendwelcher Art bilden, noch insgesamt zu manche aus Uebermut in Wehmut aus Wehmut in
Momente so recht
einem einheitlichen Stück sich zusammenschließen, ob¬ Aebermut, umspringende
Wienerisch anmuten, wie Straußische Melodien.
wohl die zwei männlichen handelnden oder sprechen
den Personen dieselben bleiben und auch die Nur daß der „leichtsinnige Melancholiker Anatol die
Züge des jungen Schnitzler zeigt. Dem ge¬
weiblichen nur die Namen wechseln, das würd
dem Erfolge wahrlich keinen Eintrag tun. Gerade reiften Schnitzler von heute werden wir an gleicher
Stätte bald wieder begegnen.
J. L.
unsere Zeit hat ja eine fast krankhafte Vorliebe
für alles was von der Norm, vom Gewohnten ab¬
weicht. Aber die immer wieder, immer aufs Neue sich
wiederholenden Gespräche über das Thema Liebe er¬
müden — oder eigentlich über das Thema „Lie¬
belei. Denn erste, flüchtige Entwürfe zum erfolg¬
reichsten Stück Schnitzlers, zu „Liebelei", stellen diese
Szenen dar: Erste Skizzen zu dem später so vor¬
trefflich, so meisterlich ausgeführten Porträt des
Wiener füßen Mädels. Die Gespräche sind
jedesmal durch ein pikantes Beispiel, durch
ein psychologisches Experiment belebt, aber die
manieriert pessimistische Weltanschauung, die in diesen
Gesprächen und Beispielen sich kundgibt, ist nirgends
Extrakt von Leben und Erfahrung, sondern überall
nur Aeußerung genialischer Altklugheit. Ein etwas
affektiert müdes Dekadententum geht träg durch diese
Szenen. Sie sind das Wiener Gigertum, auf eine
feine sozialphilosophische Formel gebracht, zu einer
geistvollen oder witzigen Pointe zugespitzt. Sie atmen
den Geist des ehemaligen Wiener Café-Stammtisches
in Schnitzlerscher Verfeinerung.
Die „Frage an das Schicksal" hat hier
schon früher eine angeregte Zuhörerschaft mit einem
heiteren Erfolg beantwortet. Anatol hypnotisiert sein
süßes Mädel, diesmal heißt es Cora, um die Wahr¬
heit, die lauterste Wahrheit zu erfahren, ob sie ihm treu
ist. So treu wie er selbst es — nie sein kann. Aber
er hat schließlich Angst vor der Wahrheit und weckt
die Kleine, ehe er die gefährliche Frage wagt, um
glücklich zu bleiben in der Illusion. „Weihnachts¬
einkäufe" nennt sich die zweite, novellistische Dialog¬
skizze. Anatol malt einer anständigen Frau, der er
einst vergeblich den Hof machte, das Glück aus, das
er bei einem Vorstadtkind gefunden; die Eifersucht er¬
weckt nun ihre Liebe, vor der sie freilich ängstlich
flieht. Der Inszenierung gibt diese Szene eine schwere
Aufgabe, denn die schwüle Erörterung findet bei
rechter Winterkälte auf der Straße statt. Kühl ließ
dies kleine Werk denn auch die Hörerschaft, trotz sehr
feiner Bemerkungen.
Das „Abschiedsfouper, die Anekdote von
Anatol, der seine Tänzerin verabschieden will, der
aber entsetzt ist, da er von ihr verabschiedet wird, übte
die stärkste Wirkung des Abends, die altgewohnte
Wirkung. „Episode" ist wieder eine kleine, nicht
eben neue Pikanterie. Anatol bildet sich ein, seine
Liebesbegegnung mit Bianca sei für sie Lebens¬
schicksal geworden und ist enttäuscht, da sie ihn nicht
wieder erkennt. Die keckste der fünf Szenen ist „Anatols