II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 86

4.9. Ana

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Betrachten wir die vier Schichten des Schnitzlerschen Riesen¬
spektakels von innen nach außen.
Den Kern, das psychologische Drama: Der junge Medardus hegt
einen großen Willen. Aber auf dem Weg vom Entschluß zur Tat
wird ihm dieser Wille regelmäßig verfälscht. Wird abgelenkt von
seiner Richtung. Medardus will fürs Vaterland ins Feld ziehen.
Da schwemmt ihm die Donau seine tote Schwester vor die Füße.
will die Schwester rächen. Da kommt ihm die Liebe überquer.
will seiner Liebe leben. Da tritt die Notwendigkeit, Held, Rächer,
Befreier zu sein, an seine Seele heran. Er will Held, Rächer, Be¬
freier sein, da stiehlt ihm neuerdings das Gespenst der Liebe alle
Energie aus den Nerven, lenkt den schon gezückten Dolch ab von
seinem ursprünglichen Ziel. Er will die tragische Konsequenz ziehen
aus all dem, heroisch sterben. Da hemmt eine Caprice des Schicksals
seinen Weg: die Tat, für die er büßen will, erweist sich als eine zu¬
fällig lobenswerte Tat, und die Gnade des großmütigen Gegners macht
die edle Todesbereitschaft des Medardus illusorisch. Jetzt mag aber
der Jüngling nicht mehr um das wohlverdiente Herven=Schicksal
betrogen sein. Er hat es satt, sich sein Heldentum neuerdings per¬
vertieren zu lassen, besteht auf dem, nun einmal rite erworbenen,
großen Abgang. Man füsiliert ihn, da er nicht sein Wort verpfänden
will, weitere Mordpläne gegen den Kaiser Napoleon aufzugeben. In
der Linie des Medardus=Schicksals läge es, daß man nun, nach des
Jünglings Heldentod, davon erführe, Napoleon sei einen Tag früher
von einem andern ermordet worden, und der ganze Aufwand an
Charaktergröße überflüssig gewesen.
Medardus ist einer, der fortwährend um seinen ungeheuern
Energieverbrauch geprellt wird. In der Luft gewissermaßen fängt
des Schicksals Hand die Kugeln aus des Medardus Büchse ab und gibt
ihnen ein andres Ziel. Daß er kein Kompromiß schließen kann, ist
seine Tragik. Scheinbar ist er schwankend und haltlos. Aber nur
deshalb, weil er das, was er eben ist, ganz und ausschließlich sein
muß. Nur Rächer oder nur Liebender oder nur Befreier oder
Märtyrer eines großen Gedankens. Das jeweilige Ziel hypnotisiert
ihn. Er ist ein Unbedingter, ein schrankenlos Hingebender, ein
leidenschaftlicher Untertan dem Gefühl oder dem Gedanken, die gerade
sein Herz und Hirn beherrschen. Seine Partnerin, die schöne Prin¬
zessin von Valois, ist schon aus anderm Stoff. Ist stärker. Auch
ihren Weg verstellt die Liebe. Aber die Prinzessin geht mitten durch
sie hindurch, ganz hingegeben und doch ganz Herrin ihrer selbst. Ja,
sie schmiedet sogar aus den Fesseln, die das Schicksal ihr anlegen
will, um sie an der Ausführung großer Pläne zu hindern, sie schmiedet
aus diesen Fesseln Waffen, die jenen Plänen die Realisierung er¬
zwingen sollen. Der Medardus ist ein elastischer Held, dessen Wille
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