II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 115

box 8/5
4.9. Anatol - Zyklus

Ausschnitt aus:
Die Welt am Montag, Berlin
vom
LANGER 1910
hagen, das gerade den Komplizierten so gern zum Primitiven
Theater.
treibt. Und mit der ungeschminkten und wehmütigen Freude einer
resignierten Intelligenz, die einen kleinen Ausschnitt aus dem
Anatol.
tollen Spiel, das wir Leben nennen, für sich und in ihrem Sinn
lebendig gemacht hat
(Lessingtheater.
Eine wundervolle Melodie schwingt leise durch dämmerige
Denn das ist schließlich doch das A und das ihres
Räume. Viel Melancholie ist darin, und ein klein wenig Laszivität
ästhetischen Evangeliums; eine diskrete Andacht vor den ewig
und eine große, wehmütig heitere Menschheitsliebe. Ein Stückchen neuen Wundern des Lebendigen. Ich kann mir sehr gut denken,
deutsches Volkslied ein Stückchen Mozart, ein Stückchen Wiener daß die Art und Weise, wie Anatol und Freund Max ihrem Leben
Walzer und ein Stückchen italienische Operette.
und ihrer Kunst zum Rhythmus verhelfen, bei Andersgearteten
Wie Schattenrisse gleiten ein paar blasse, ironisch nachdenkliche,
empörte Protestresolutionen zu entfesseln vermag. Bei rüstigen
sehr kluge und sehr kultivierte Gesichter vorüber. Kinder eine
Tatmenschen etwa, bei Bismarcknaturen, die das eitle Nichtstuer¬
müden, skeptischen, tausendfach behorchten und tausendfach zer
dasein dieser Dekadence=Apostel von Grund auf degoutieren.
arbeiteten Verfallszeit. Verhätschelte Lieblinge des Glücks und er¬ der bei demokratisch Gesinnten, die es als lächerlich empfinden
lesene Luxusgeschöpfe, denen die Kunst des Lebens zum einzigen
daß man die Boudoir- und Separé-Geheimnisse der oberen Fünf¬
ästhetischen Credo geworden ist. Ueberlegene Betrachter menschlichen
hundert so furchtbar feierlich nimmt. Es ist sogar wahrscheinlich
Zusammenhänge. Elegant verzärtelte Genießer, um deren Mund, daß die Atmosphäre dieser entzückenden Szenenfolge, gerade weil
winkel die Skepsis des Snobs eine leichte Blasiertheit gegraben hat
sie so suggestiv ist, etwas tief Degravierendes hat. Aber die
Philosophen im Frack und mit weißer Binde
Tatsache, daß hier ein wundervoll reifer Dichter mit nachlässiger
In vornehm ruhigen Junggesellenwohnungen, durch die ein bis¬
Eleganz die erlesensten Kostbarkeiten unserer Zeit hingezaubert
kreter Luxus flutet, sitzen sie beieinander und reden von klugen, hat, scheint mir allen Einwendungen den fatalen Beigeschmack
feinen Diligen: Von den betörenden Heimlichkeiten dieses seltsam einer hartnäckigen Philistrosität zu geben. Ich liebe diese Anatol¬
verschnörkelten Lebens. Von Frauen, die sie geliebt haben, und von Szenen mit der Liebe des Zeitgenossen, der in ihrer hingehauchten
süßen Mädels, die irgendwo draußen in der Vorstadt auf sie warten. Melodie Selbstgefühltes und Selbsterlebtes wiederfindet. Ich
Von Vergangenem und Gegenwärtigem. Von dem zauberhaften liebe sie, weil ich in ihrer wehmütig ironischen Heiterkeit den von
Duft vertrockneter Blumen und von der seligen Torheit verstaubter Dichterhänden geformten Ausschnitt eines Lebens sehe, das uns
Liebesbriefe. Von der Poesie halbverwehter Erinnerungen, von der alle angeht und uns allen so unendlich viel zu schaffen macht
Wehmut des Aelterwerdens und von allem, was dieser törichten
Daß Brahm endlich einmal dem Dichter Arthur
Welt ihren rätselhaft lockenden und trotz aller Dagewesenheit immer Schnitzler zum Worte verhalf, scheint mir das erste wichtige
wieder bezwingenden Rhythmus gibt.
Ereignis dieses Theaterwinters.
Arthur Westpha¬
Sie reden und träumen und dichten und rauchen Zigaretten
und verweben alles Menschliche in die von Takt und weltmänni¬
scher Klugheit gesättigte Atmosphäre ihrer liebenswürdig melan¬
cholischen Sybarithen=Philosophie. Sie sind niemals laut und
niemals pathetisch. Sie nehmen die kleinen Erlebnisse ihrer Mi¬
niaturwelt vielleicht wichtiger, als sie genommen zu werden ver¬
dienen. Aber sie sind auf der anderen Seite ehrlich und kritisch
genug, um den leise parodistischen Zug in ihrer eigenen Mensch¬
lichkeit niemals zu übersehen. Es liegt ein Stückchen mutiger
Selbstversiflage in ihrem Gebaren. Und, wenn ihr so wollt, auch
ein Stückchen ernsthafter Weltanschauung
Sie sind Artisten und genießen als solche die Nüance, die
Episode. Auch in ihren Beziehungen zu den Frauen und Mäd¬
chen, die ein launischer Zufall ihnen in den Weg wirft. Si¬
adeln die Gleichgültigkeit dieses Zufalles durch die überlegene
Art ihrer Betrachtungsweise. Sie wissen, daß die blonde Cora mit
den zerstochenen Fingern ein banales kleines Nähmädel aus der
Wiener Vorstadt ist, daß die frech-lustige Annie direkt aus dem
Opernchor ins Separé gelaufen kommt, und daß die Bianca vom
Zirkus schon heute nicht mehr an den Liebhaber von gestern denkt
Sie kennen die Primitivität des Materials, das sie auf der Straße,
unter dem Regenschirm, in der Pferdebahn oder im Caféhaus auf¬
gelesen haben. Sie wissen, daß morgen schon welk sein wird, was
heute noch blüht. Sie wissen das alles und geben doch ihr beste¬
Teil, die Subtilität ihrer Empfindung und die Differenziertheiten
ihres Organismus daran hin. Immer mit dem kennerischen Be¬